0349 - Brücke der knöchernen Wächter
aus welchem Grund Aldo und Leila den Weg nach Marokko gewählt hatten. Sie wollten hier mit Lilith zusammentreffen, denn sie mußten genau gewußt haben, daß in diesem Land für sie eine Chance bestand, die erste aller Huren zu sehen.
Anscheinend schien der Zeitplan ein wenig durcheinander geraten zu sein, denn normalerweise und nach Sukos Vorstellungen hätte er auch Aldo und Leila zwischen den Gestalten sehen müssen.
Vier Skelette schleppten ihn fort. Und vier weitere kümmerten sich um den Franzosen.
Die acht Knöchernen schritten mit ihrer Last nebeneinander her.
Suko hörte den Franzosen schimpfen. Er versprach den unheimlichen Erscheinungen die Hölle, wenn es ihm erst einmal gelungen war, sich zu befreien. Suko ließ ihn schimpfen. Vielleicht tat ihm das sogar gut, wenn er sich den Ärger von der Seele redete.
Von einem Baum der Toten hatte der Bai gesprochen. Auch darüber dachte Suko nach. Er wußte, daß es in Asien Menschen und Völkergruppen gab, die ihre Verstorbenen in Bäume legten, damit die aus der Luft herabstoßenden Aasfresser kamen, um satt zu werden. Ein für Europäer unbegreifliches Ritual.
Wie weit es war, wie lange der Weg noch dauern würde, all das wußte der Inspektor nicht. Aber er sah einen langen Schatten, obwohl keine Sonne schien, und dieser Schatten berührte seinen Körper.
Er gehörte dem Totenbaum.
Schon stoppten die Skelette ihren Weg. Suko wurde in die Höhe gehoben. Er bekam das Gefühl, fliegen zu können und glaubte gleichzeitig, in die Tiefe zu stürzen.
Ja, er fiel – bis zum Widerstand.
Suko merkte den Schlag unter seinem Rücken, spürte auch das nachgiebige Federn und lag still.
Claude Renard erging es nicht anders. Er lag zwar neben Suko, aber nicht mit ihm auf gleicher Höhe, sondern ein wenig tiefer, so daß der Inspektor auf ihn herabschauen konnte.
Ihre Blicke trafen sich. Das Gesicht des Franzosen war verzerrt.
»Hätte ich gewußt, daß ich hier mein Leben verliere, hätte ich meinem alten Freund Conolly den Gefallen nicht getan.«
»Noch bist du nicht tot.«
Claude lachte. »Aber so gut wie. Und das ist oft genug noch schlimmer. Glaub mir.«
Die Skelette hatten sich zurückgezogen. Auch Suko wollte nicht mehr reden, sondern sich umschauen. Er mußte erfahren, was es mit den Totenbäumen auf sich hatte und wo er sterben sollte.
Seine Glieder wirkten weiterhin wie mit schwerem Blei gefüllt.
Nicht einmal den kleinen Finger konnte er heben, geschweige denn einen Arm bewegen oder ein Bein.
Aber er konnte schauen.
Und deshalb sah er in die Tiefe, vorbei an dem unter ihm liegenden Claude.
Sein Blick glitt hinein in die Unendlichkeit. War es die endgültige Leere, von der so oft geschrieben und auch immer gewarnt wurde?
Der Inspektor nahm es fast an. Ein Schauder durchlief ihn, als sich sein Blick in der Schwärze verlor. Und aus dieser Tiefe stieg etwas hervor, das er nur mehr als Kälte und unendliche Leere bezeichnen konnte. Diese beiden Dinge, die für einen Menschen so schlimm waren, das mußte wohl die Hölle sein.
Das Reich Luzifers!
Die Skelette hatten ihn auf den Totenbaum geschafft. Wie Suko feststellen konnte, lag er mit dem Rücken auf einer breiten Astgabel, die so stark war, daß sie auch sein Gewicht halten konnte. Wie lange er über dieser endlosen Leere schweben mußte, wußte er nicht zu sagen, er hoffte, daß sie ihn nicht allzu lange quälen würden, denn eine Chance für sich oder Claude sah er nicht.
Wen die andere Welt einmal hatte, den ließ sie nicht mehr los.
Und doch gab es Licht in der Finsternis.
Irgendwo unter ihm, vielleicht am Ende der Leere leuchtete es für einen Moment auf, wurde wieder dunkel, und im nächsten Augenblick kam der rötlich gelbe Schein zurück.
Er bestrahlte ein Ziel.
Es war die Brücke.
Und Suko konnte sehen. Er erkannte die Skelette, die von der Höhe kamen und sich der Brücke näherten.
»Verdammt, was hat das denn zu bedeuten?« fragte Claude.
Suko gab keine Antwort. Er schaute weiter nach und stellte fest, daß die Skelette die Brücke betreten hatten.
Wollten sie wieder zurück in die andere Welt?
Allein diese Tatsache war für Suko, der im Baum der Toten lag, eine Qual, und trotzdem schloß er nicht die Augen, denn die Knöchernen hatten die Brücke nicht ohne Grund betreten.
Der Grund war ein Mann.
Suko, der sehr hoch lag, sah die Gestalt winzig klein. Dennoch erkannte er sie, wie sie aus dem Nebel trat, als wäre sie ein spukhaftes Wesen und nicht ein Mensch aus Fleisch
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