0359 - Meine Henkersmahlzeit
Henkersmahlzeit hatte mir für einen Moment das Leben gerettet. Da ich selbst angebunden war und meine Hände nicht bewegen konnte, wollte mich der Junge füttern. Früher war ich von meiner Mutter gefüttert worden, jetzt tat er es mit umgekehrten Vorzeichen und auf eine nahezu perverse Art und Weise.
Gelassen schnitt er das erste Stück des Apfels ab, schaute mich an und streckte die linke Hand aus.
»Die Henkersmahlzeit, Sinclair. Deine Henkersmahlzeit. So wie ich es dir versprochen habe!«
Nicht der Junge hatte gesprochen, sondern Akim Samaran, der sich ebenfalls in dem Keller aufhielt, von mir aber nicht gesehen werden konnte.
»Na, Sinclair, was sagst du dazu?«
»Ich werde wohl kaum essen können!«
»Wieso?«
»Weil ich gefesselt bin.«
Beide Sätze hatte ich hervorgewürgt und hörte sein hämisches Lachen. »Gefesselt, Sinclair, was ist das schon? Wir sind doch keine Unmenschen. Du wirst eben gefüttert. Der kleine John hatte meine Befehle bekommen. Er wird dich füttern. Er schneidet dir den Apfel und das Brot. Und zum Schluß bekommst du noch eine Apfelsine. Das sind Vitamine, die du mit in den Tod nehmen kannst«, erklärte er, und seine Stimme troff dabei vor Zynismus. »Leider habe ich nicht erfahren können, aus welchen Dingen sich deine Lieblingsmahlzeit zusammensetzt, so mußte ich das letzte Mahl auswählen und hoffte, daß es dich zufriedenstellt.«
Ich erwiderte nichts. Wenn ich mich jetzt bockig anstellte und den Mund verschloß, würde mich mein jüngeres Spiegelbild umbringen, und ich wollte jede Sekunde, die mir das Leben noch gab, auch ausnutzen. Dabei dachte ich an meinen Vater. Ich hatte ihm eine Frist gesetzt. Ob sie schon verstrichen war, konnte ich nicht sagen, da es mir nicht gelang, bei den auf dem Rücken gefesselten Händen einen Blick auf die Uhr zu werfen. Möglicherweise war sie um.
Ich dachte auch an das Wetter. Wenn sich mein Vater an meine Ratschläge gehalten hatte, würde er die Polizei alarmieren. Aber wie lange brauchten die Beamten bei diesem Schneetreiben, um das Ziel zu erreichen? Das war überhaupt nicht abzuschätzen.
Und so konnte ich weiterhin nur warten, selbst nichts unternehmen und sah meine Chancen auf Rettung immer kleiner werden.
Der kleine John hatte mittlerweile die erste Apfelscheibe abgeschnitten. Ein Stück so lang wie ein Daumen. Es lag auf der Klinge, als er es in die Nähe meiner Lippen brachte, ich den Mund öffnete und das Stück zwischen die Zähne nahm.
Die Hand mit dem Messer zuckte zurück. Dafür vernahm ich wieder die Stimme Samarans. »Iß es, Sinclair! Los, schluck es runter! Es ist der erste Bissen!«
Ich versuchte es. Als sich der Strick um meine Kehle wieder härter anspannte, spie ich den Apfel aus. Die einzelnen Stücke fielen auf den Sarg. Zwei von ihnen blieben sogar noch auf dem Teller liegen, und der kleine John hob sofort den Arm mit dem Messer.
Samaran begann damit, sich aufzuregen. »Bist du lebensmüde, Sinclair? Sollen wir dir jetzt schon die Kehle durchschneiden?«
Mein Ebenbild wollte dies wörtlich nehmen, denn die Klinge näherte sich in bedrohlicher Weise meinem Gesicht.
»Ich… ich kann nicht essen!«
»Weshalb nicht?« fragte Samaran.
»Der Strick, verdammt. Er ist zu stramm. Ich… bekomme keine Luft. Ich kann nicht schlucken!«
Samaran lachte.
Ich zitterte innerlich. Würde er es mir glauben? Es war ein Bluff.
Ich konnte schlucken, wenn auch mit Mühe, aber ich wollte mein Blatt bis zum letzten Stich ausreizen.
Samaran kam näher. Ich hörte seine Schritte lauter werden, ihn selbst sah ich nicht. Er blieb mir auch weiterhin verborgen, da er hinter mir stehenblieb und sich zunächst an seinen Helfer wandte.
Der nachgebildete John Sinclair stand mit stoßbereitem Messer vor mir. Er hielt die Klinge parallel zu meinem Hals, so daß er mich mit einem Schnitt töten konnte.
Wie würde sich Samaran entscheiden?
»Okay«, sagte er plötzlich. »Ich bin kein Unmensch.« Er fügte noch ein Lachen hinzu. »Schneide ihm die verdammte Halsfessel durch. Er hat ja noch die Hände fest.«
Der Junge bewegte sich an mir vorbei. Ich spürte ihn am Rücken.
Für einen Moment bekam ich keine Luft mehr, dann hatte er den Strick durchsäbelt. Ich kippte ein wenig nach vorn und warf mich wieder nach hinten.
Endlich konnte ich frei und ohne Druck durchatmen. Das genoß ich in den nächsten Sekunden und dachte daran, daß ich einen kleinen Vorteil bekommen hatte.
Zwar war es mir nicht möglich, die genaue
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