036 - Der Wolfsmensch im Blutrausch
Niemand wußte eine Erklärung dafür. Die Fuchs- und Dachsfallen
waren leer. Und es sah auch ganz so aus, als wäre der Täter nicht durch ein
Loch im Zaun gekommen, sondern durch die Stalltüren. Und welches Tier ist dazu
schon in der Lage? Man rätselte herum. In den ersten Tagen nach der Tat legten
sich verschiedene Dorfbewohner auf die Lauer. Umsonst! Sogar wir Jungen - ich
war damals zu Besuch auf einem der Höfe - waren vom Jagdfieber gepackt.
Vierzehn Tage lang bestand eine lückenlose Wache. Aber es gab in dieser Zeit
nicht den geringsten Zwischenfall. Man resignierte. Dann jedoch, wieder in
einer Vollmondnacht, geschah es abermals!
Als wäre ein Raubtier in einen Stall eingedrungen, so sah es aus.
Als man merkte, daß es immer nur in Vollmondnächten passierte, ließ man sich
etwas einfallen.
Einige Bauern beschlossen, die Drahtzäune an den elektrischen
Strom anzuschließen. Vier Wochen später kam es an den Tag. Ein Bauer war der
Überzeugung, daß ein besonders intelligenter Wolf hier sein Unwesen trieb. Er
sollte auf makabre Weise recht behalten. Es war ein Wolf, aber was für einer!
Es war ein Wolfsmensch, der vier Wochen später am feuchten Drahtzaun
hängenblieb und von dem starken Strom getötet wurde. Man sprach lange Zeit
davon, daß ein Wesen halb Mensch, halb Wolf für die gerissenen Tiere
verantwortlich zu machen sei.
Nach dem Tod des Werwolfs hörten diese Zwischenfalle abrupt auf.
Vom gleichen Zeitpunkt an war auch ein junger Mann aus dem Dorf verschwunden,
den man danach nie wiedergesehen hat. Er mußte mit dem Werwolf identisch
gewesen sein. Mich ließ dieses Erlebnis niemals los. Als ich von dem Vorgang in
der Nähe von Falun in der Zeitung las, mußte ich sofort an dieses Vorkommnis in
meiner Jugend denken. Der Mord an der unbekannten Frau vor vier Wochen - es
hieß, daß die Leiche ausgesehen hätte, als wäre ein Wolf über sie hergefallen.«
»Und was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen?« fragte Björn Täle
mit belegter Stimme, nachdem es in der Wirtschaft so still geworden war, daß
man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
»Entweder ist alles nur eine fixe Idee von mir«, sagte Löngö
leise, »oder es gibt ihn wirklich noch, und sie haben ihn damals nicht
umbringen können!«
Der Hüne, sonst ein Mann, den nichts so leicht umwarf, wischte
sich mit einer fahrigen Bewegung über die schweißnasse Stirn, und der Wirt
griff einfach auf den Tisch hinter sich, holte sich eines der noch halbgefüllten
Gläser heran und trank es mit einem Zug leer, ohne sich darüber im Klaren zu
sein, daß er eigentlich gar kein Getränk dort stehen hatte.
»Werwölfe haben bekanntlich ein zähes Leben«, beendete der Maler
seinen Bericht. Ruhig sah er sich in der Runde um. »Vielleicht entkam er
damals, vielleicht aber wurde zu jener Zeit auch hier in dieser Gegend ein
solch rätselhaftes Wesen geboren? Vielleicht begann es auch hier vor langer
Zeit damit, daß Kleinvieh verschwand, daß man die Tat einem kleineren Raubtier
zuschrieb. Dann könnte unter Umständen eine längere Pause eingetreten sein, in
der diese furchtbare Veranlagung nicht zum Durchbruch kam. Auch das gibt es
...«
Täle, der Jüngste in der Runde, war es wieder, der es nicht
unterlassen konnte, sich bemerkbar zu machen: »Sie scheinen dieses Thema außer
Ihrer Malerei intensiv studiert zu haben!«
»Ja, das habe ich! Es werden nicht jeden Tag Genies und Seher
erschaffen, und es werden auch nicht jeden Tag Werwölfe geboren. Wenn es
vorkommt, dann erfahrt die Öffentlichkeit meistens nichts davon. Durch
irgendwelche Manipulationen verschwinden solche Kinder von der Bildfläche. Es
heißt, daß sie kurz nach der Geburt gestorben seien, oder aber den Müttern
gelingt es, ihre Kinder im Verborgenen großzuziehen, und eines Tages tauchen
sie dann auf. Als reißende Bestien! Zu normalen Zeiten, vor und nach dem Vollmond,
sind es ganz gewöhnliche Menschen, denen man nichts ansieht, und ...«
Täle lachte schallend. In seinen braunen Augen glomm ein seltsames
Licht. »Sie sind der größte Märchenerzähler, der mir je begegnet ist.«
Er unterbrach sich, als der ältliche Wirt mit dem dünnen Haarkranz
sich umdrehte und dem jungen Busfahrer einen merkwürdigen Blick zuwarf. »Ich
würde an Ihrer Stelle nicht so reden, Täle. Das Leben ist voll von ungelösten
Rätseln.« '
»Ja, begreift ihr denn nicht, was er eigentlich mit seinen Worten
sagen will?« fuhr Björn Täle fort. Sein Gesicht glühte vor Erregung. »Wenn
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