0364 - Mongolenfluch
die verschwundene Dolmetscherin aus San Francisco, die laut eigenem Bekunden die Heimat ihrer Vorfahren zum ersten Mal sah?
Kommissar Wu Hong-Tiu plauderte mit Zamorra über Buddha, die Welt und das Wetter, über die wechselvolle Geschichte des Landes und die Lehren den Konfutse, ehe sie endlich zur Sache kommen konnten. Während das Essen aufgetragen wurde, äußerte Zamorra seine Vermutung über den Grund des Überfalls und erkundigte sich nach dem Inhalt des Briefes.
»Der Brief ist spurlos verschwunden, Monsieur Zamorra«, gestand Kommissar Wu.
»Das gibt’s nicht!« stieß Tendyke hervor.
»Doch. Es gibt es. Der Brief ist verschwunden, so wie das Herz des Toten verschwand. Aus dem verschlossenen Tresor heraus. Niemand kann sich erklären, wie das geschah. Denn ich allein kenne die Zahlenkombination dieses Tresors in meinem Büro. Ich hatte den Brief aufbewahrt…«
»Wann ist das Veschwindpn bemerkt worden?« fragte Zamorra. Immerhin war es schon zwei Tage her, daß Madschukain gestorben war.
»Am heutigen Morgen.«
»Aber jemand wird doch wohl den Briefinhalt kennen, nicht wahr?« vermutete Zamorra. »Ich bin sicher, daß Sie ihn gelesen haben.«
Wu lächelte.
»Niemand hat diesen Brief gelesen«, sagte er. »Denn seine Schriftzeichen sind keine uns bekannten.«
»Bitte?« Tendyke beugte sich leicht vor. »Keine bekannten? Aber… ?«
»Der Name ›Madschukain‹ auf dem Umschlag war mit einer Maschine geschrieben. Der Brief selbst handschriftlich gemalt - aber weder in mongolischer, noch in chinesischer Schrift. Ich bezweifele, daß es auf der Welt jemanden gibt, der diese Schrift lesen kann.«
Ein Gedanke durchzuckte Zamorra. »Aber Sie haben die Zeichen gesehen, Kommissar? Sie würden sie unter Umständen wiedererkennen?«
»Vielleicht…«
Zamorra öffnete sein Hemd unter der Krawatte und hakte das vor seiner Brust hängende Amulett vom silbernen Halskettchen. Er reichte es dem überraschten Kommissar hinüber. »Sehen Sie sich die Hieroglyphen auf dem äußeren Silberband an«, bat er. »Erkennen Sie darauf Schriftzeichen wieder?«
Auch diese Zeichen hatten sich in all den Jahren einer Übersetzung widersetzt. Sie besaßen mit keiner einzigen jemals auf der Erde entwickelten Schrift Gemeinsamkeiten. Zamorra glaubte auch diesmal nicht an eine Übereinstimmung. Aber man sollte die Hoffnung nie aufgeben…
Wu drehte das Amulett in den Händen hin und her und betrachtete es eingehend. Dann zuckte er mit den Schultern. »Nein, Monsieur«, erwiderte er. »Ich sehe keine Ähnlichkeiten. Dies ist nicht die Schrift auf dem Brief.«
Er reichte die handtellergroße Silberscheibe zurück. Zamorra befestigte sie wieder und richtete sein Hemd.
»Wir haben den Brief vor seinem Verschwinden noch fotokopieren können«, sagte Wu. »Vielleicht hilft Ihnen das etwas. Ich nehme an, daß Sie ihn sehen möchten.«
»Den Brief und den Toten«, sagte Zamorra. »Und ich möchte wissen, ob es eine Fahndung nach Su Ling gegeben hat.«
»Ja. Sie wäre als Zeugin wichtig gewesen. Aber sie ist unauffindbar.«
»Fahndung nur im Stadtbereich von Peking?« Der war immerhin riesengroß. Hier lebten einige Millionen Chinesen, wie überhaupt der östliche Bereich des Landes am dichtesten besiedelt war. Weiter im Westen, zum Inneren des gigantischen asiatischen Kontinentes hin, war es schon ein großer Zufall, wenn man irgendwo auf einen Menschen stieß.
»Im ganzen Verwaltungsbereich wird gesucht. Bisher ohne Erfolg«, gestand Wu.
»Ich möchte nicht zu aufdringlich erscheinen«, sagte Zamorra. »Aber wann kann ich die Briefkopie und den Toten sehen?«
»Wann immer Sie wollen, Monsieur. Doch wäre es vielleicht ratsam, zunächst das vorzügliche Essen zu genießen. Oder behagt Ihnen die chinesische Küche nicht?«
Zamorra lächelte.
»Sehr. Aber sie sättigt ungemein«, gestand er.
***
Zwei Stunden später - es war bereits dunkel geworden, und Pekings Straßen leerten sich zusehends - begutachtete Professor Zamorra die Fotokopie des verschwundenen Briefes. Sie kam ihm recht lichtschwach vor. Grau statt schwarz. War das Original mit blauer Tinte geschrieben worden? Er fragte danach.
»Nein… schwarze Tusche, mit einer normalen Feder geschrieben, wie unsere Experten herausfanden. Leider kamen wir noch nicht dazu, das Papier wie auch die Tusche auf ihr Alter zu untersuchen…«
Zamorra hob die Brauen. In diesem Punkt dachte Wu sogar weiter als er -nur um einen Tag zu spät.
»Aber warum ist dann diese Kopie so
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