0367 - Der Hexenbaum
du das? Hier ist Nicole Duval! Erinnerst du dich?«
»Und ob! Ich bin überrascht. Warte, ich komme…«
Ein leises Knacken verriet, daß die Anlage ausgeschaltet worden war. Wenig später huschte ein zierliches schwarzhaariges Mädchen im bunten Seidenmantel die Treppe hinunter. »Nicole! Herzlich willkommen in meiner Heimat!« Sie stutzte. »Hast du Zamorra nicht mitgebracht?«
»Ich bin allein hier«, sagte Nicole.
»Dann komm herauf, schnell.« Sie eilte vor der Französin wieder nach oben und öffnete in der dritten Etage eine unscheinbare Tür. Dahinter zeigte sich eine Wohnlandschaft eindeutig asiatischer Prägung. Ling deutete auf Sitzkissen. »Willst du dich dort niederlassen, oder ist es zu unbequem? Dann hole ich einen Schaukelstuhl herüber…«
»Schon gut, Ling«, sagte Nicole und ließ sich auf einem der Seidenkissen nieder. Ihr Blick nahm eine Unmenge von Tischzeichnungen auf, die mit Reißzwecken an die Tapete geheftet waren, sah die niedrigen Truhen und die gläserne Vitrine mit den Porzellanfiguren, den Hausaltar…
Ling tauchte mit zwei Porzellanschalen und einer Karaffe wieder auf. »Es ist zwar kein chinesischer Reiswein, sondern eine kalifornische Sorte, aber er ist gut«, sagte sie und begann die beiden Schalen zu füllen.
Nicole dankte und griff zu.
»Ich hoffe, es führt dich kein böser Wind in dieses Land«, sagte Ling. »Hast du Nachricht von Lee?«
»Nein. Aber du befindest dich in einer tödlichen Gefahr. Eine Hexe bedroht dich. Hast du schon fremde Einflüsse spüren können, die auf dich einwirken? Ich bin gekommen, um dich zu warnen und dir zu helfen. Du wohnst allein hier?«
Su Ling nickte. Ihr Lächeln war zur Maske erstarrt. Ungläubig sah sie Nicole an. Dann aber begriff sie, daß die Französin nicht scherzte. Sie hatte sie in China und in Ghet-Scheng jenseits der Grenze zur Mongolei kennengelernt und wußte, was sie von ihr halten mußte. Wenn Nicole von einer Hexe sprach, dann gab es diese Hexe auch.
Bis vor wenigen Wochen hatte Ling ein von Magie relativ unberührtes Leben geführt. Gut, es gab die chinesischen Mythen und Legenden, es gab Geschichten von guten und bösen Zauberern, von Drachen und Kriegern, es gab Erzählungen von Zauber und Wundern. Aber mit der Wirklichkeit konfrontiert zu werden, war eine ganz andere Sache.
»Wer ist diese Hexe?« fragte Ling tonlos. »Was habe ich ihr getan? Und was soll ich tun?«
»Ich kenne ihren Namen nicht«, sagte Nicole. »Ich weiß nur, daß sie schwarzhaarig ist und keine Asiatin. Sie muß von hier kommen. Alles weitere ist ungewiß. Aber vielleicht ist es gut, wenn du deine Wohnung vorübergehend verläßt und woanders unterkommst.«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Su Ling. »Was habe ich an mir, daß jemand mich bedrohen sollte? Gut, ich bin die wiedergeborene Seele einer Fürstengemahlin. Aber wenn diese Hexe noch nicht dem Reich der Mitte entstammt oder der Mongolei… was soll es dann?«
»Ich werde es herausfinden«, sagte Nicole. »Ich schlage vor, daß du dir ein Zimmer in einem Hotel nimmst, während ich der Hexe eine Falle stelle. Einverstanden?«
»Und wie willst du das machen?«
»Ich weiß es noch nicht«, gestand Nicole. »Ich bin hierher gekommen, ohne mir lange Gedanken zu machen. Ich weiß nur, daß die Zeit drängt. Komm, wir suchen ein Hotel. In der Zwischenzeit werde ich dir erzählen, wieso ich davon weiß und wie ich hergekommen bin.«
»Du wirst einen Augenblick Geduld haben müssen«, sagte Su Ling. »Ich war schon im Begriff, zu Bett zu gehen. Ich muß mich wieder richtig anziehen. Warte bitte etwas, ja?«
Sie verschand wie ein Wirbelwind in den Nebenraum. Nicole nippte am Wein, der vorzüglich schmeckte. Ling hatte die Sache erstaunlich schnell akzeptiert. Nicole fragte sich, ob die Chinesin mit einem solchen Vorfall gerechnet haben könnte. Aber ihre Worte sprachen eigentlich dagegen.
Nun, dachte die Französin. Ich bin jetzt hier, und ich kann, will und werde sie schützen. Wenn sie angreift, werden wir erfahren, wer die Hexe ist…
***
Sybil Ranix hatte sich in den Sessel fallen lassen, in dem sich der Abgesandte der Hölle noch vor wenigen Minuten befunden hatte. Ihre Fingerspitzen glitten über die Lehne, und sie versuchte etwas von der teuflischen Aura zu erfassen. Sie hatte sie bei dem Kahlköpfigen nicht gespürt, obgleich er unter den üblichen Umständen in die Hölle niedergefahren war. Aber irgend etwas stimmte mit ihm nicht. Er war der Teufel, und doch besaß er
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