0367 - Der Hexenbaum
der Hexe einbrannten. Bilder, die verschlüsselt waren, die ein Außenstehender nicht analysieren konnte.
Die Kugel wurde wieder klar und funkelte im Licht der Deckenlampe. Sie sank auf das Samttuch nieder. Die Hexe zog ihre Hände zurück und öffnete die Augen.
»Ich hatte recht«, sagte sie.
»Wie?« stieß Sonia hervor. »Ist sie tatsächlich nicht in der Stadt?«
»In der Stadt schon. Aber nicht in ihrer Wohnung. Sie befindet sich im Hotel ›West Coast Star‹, Zimmer 645« sagte sie Hexe.
»Wie - wie hast du das gemacht? Wie konntest du es sehen?«
Sybil verbarg die Kristallkugel wieder sorgfältig in dem schwarzen Samttuch und legte sie in den Schrank zurück. Sie schloß die Tür und berührte das Schloß mit den Fingerspitzen.
»Du hast nichts in den Bildern erkannt, nicht wahr?«
Sonia nickte.
»Es bedarf der Schulung des Geistes«, sagte die Hexe. »Du wirst lernen, damit umzugehen. Eines Tages wirst du es können. Nun, du weißt, wo du Su Ling findest.«
»›West Coast Star‹, Zimmer 645«, memorierte Sonia. Sie erhob sich. Diesmal hielt die Hexe sie nicht zurück.
»Noch etwas, bevor du gehst«, sagte sie dann aber. »Öffne den Schrank.«
Sonia tat, was Sybil verlangte. Wie sie es bei der Hexe gesehen hatte, berührte sie das Schloß mit den Fingerspitzen und öffnete dann die Schranktür.
Verblüfft sah sie in das leere Fach. Sie hatte genau gesehen, wie Sybil die Kugel hier hinein gelegt hatte!
Aber da war keine Kugel mehr.
Sybil legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Sie lachte noch, als Sonia die Wohnung verlassen hatte und verwirrt die Treppe hinunter stolperte.
***
»Ich werde jetzt deine Wohnung absichern und zu einer Falle machen«, hatte Nicole sich wenige Minuten vorher von Su Ling verabschiedet. »Vielleicht gelingt es mir dabei sogar, die Hexe aus der Reserve zu locken und unschädlich zu machen. Auf jeden Fall wird sie danach keine Gefahr mehr für dich sein.«
»Paß auf dich auf, Nicole«, hatte Ling geantwortet. »Sei vorsichtig, ja?«
»Ich bin immer vorsichtig. Deshalb lebe ich auch noch. Versuche zu schlafen. Das wolltest du doch, bevor ich kam?«
»Ich weiß nicht, ob ich schlafen kann. Ich wollte, Wang Lee wäre hier.«
Nicole hatte sich ein Taxi kommen lassen und war nun wieder unterwegs nach Chinatown. Inzwischen war Mitternacht vorbei. Der chinesische Stadtteil lag in Ruhe und Dunkelheit. Nur hier und da waren noch entgegen der chinesischen Tradition einige über Hintereingänge erreichbare Nachtlokale geöffnet; die Verlockung des Geldes hatte die Traditionen besiegt. Aber die Lokale interessierten Nicole nicht.
Sie ließ sich in die Nähe von Lings Wohnung bringen. Die letzten 200 Meter legte sie zu Fuß zurück. Sie bewegte sich vorsichtig und achtete auf jeden Schatten. Im scharzen Leder-Overall verschmolz sie mit der Dunkelheit. Das Amulett war einsatzbereit.
Aber niemand lauerte ihr auf, niemand griff sie an. Nicht Mensch und nicht Dämon.
Nicole erreichte den Hauseingang, der immer noch geöffnet war. Entweder hatte man hier keine Angst vor dem Auftauchen zwielichtiger Elemente, oder es wurden Schutzgebühren an eine Gangsterorganisation bezahlt. Nicole nahm letzteres an; außerdem würden verschlossene Hauseingänge Einbrecher nur zu Zerstörungen reizen.
Sie trat ein.
In welcher Etage Su Ling wohnte, hatte sie sich gemerkt. Sie hatte auch Lings Wohnungsschlüssel mitgenommen. Bevor sie die Tür öffnete, prüfte sie das magische Siegel. Es war unberührt. Niemand hatte sich daran zu schaffen gemacht. Nicole war erleichtert; sie hatte der Meldefähigkeit des ihr fremden Amuletts nicht so recht getraut.
Die Hexe war noch nicht hier gewesen.
Das war kein Grund, sich in Sicherheit zu wiegen. Sie konnte noch jederzeit hier aufkreuzen.
Nicole trat vorsichtig ein. Sie schloß die Tür hinter sich und sah sich um. Wie konnte sie die Falle am besten konstruieren, ohne daß bei ihrem Auslösen mehr Schaden als unbedingt nötig verursacht wurde?
Das Schrillen des Telefons ließ sie zusammenzucken.
Einige Sekunden lang stand sie erstarrt da. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wer konnte um diese Zeit hier anrufen? Su Ling selbst! Vielleicht wollte sie sich nur ungeduldig vergewissern, daß alles in Ordnung war.
Vielleicht wurde sie aber in diesem Moment im Hotel bedroht…?
Nicole eilte zum Telefon und hob ab. »Hallo…?«
Ein leises, wohlbekanntes Lachen klang ihr entgegen. »Wen hast du erwartet, Nicole? Ich sehe dich«, vernahm sie
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