0367 - Der Hexenbaum
hauste. Mit Totenschädeln, Spinnweben und alchimistischem Gerät hatte Nicole ohnehin nicht gerechnet, aber das Bücherregal im Schrank präsentierte auch keine Bücher über Okkultismus und Magie. Sollte das doch die falsche Wohnung sein? Andererseits - Hexen pflegten nach außen hin meist ein völlig normales Leben zu führen. Warum sollte Sybil Ranix sich Besuchern gegenüber durch Kleinigkeiten verraten?
Nicole knipste das Wohnzimmerlicht wieder aus und öffnete die Tür zum kleinen Korridor. Sie trat ein paar Schritte vorwärts.
Der Boden unter ihren Füßen gab nach, und sie verschwand in der Tiefe eines endlosen Schachts…
***
Die Hexe hatte nach Sonia Parkers Weggang die Kristallkugel wieder aus dem Schrankversteck geholt, sie auf Sonia eingestellt und ihr Vorgehen verfolgt. Sie fand es nicht sonderlich geschickt. Sonia Parker hätte ein anderers Fluchtfahrzeug wählen sollen und die Angelegenheit besser vorbereiten müssen. Jetzt gab es einen Zeugen. Aber der ließ sich noch beseitigen, und wenn Sonia nicht akzeptiert wurde oder bei der weiteren Durchführung der Entführung versagte, war es ohnehin egal. Wichtig war nur, daß keine Spur zu den Hexenschwestern führte.
Immerhin - Su Ling war entführt worden, und sie lebte. Das war es, was Sybil hatte wissen wollen.
Die Hexe legte die Kristallkugel wieder zurück und rief die Hexenschwestern an. »Das Ritual wird stattfinden. Eilt zum Versammlungsort. Es ist nun an der Zeit.«
Dann nahm sie an sich, was sie während des Rituals brauchen würde, verließ ihre Wohnung und fuhr los. Schon nach wenigen Augenblicken hatte sie den Stadtrand hinter sich gelassen. Im Süden, in den Santa-Cruz-Bergen, war der verborgene Ort, an dem sich entscheiden würde, ob Sonia Parker als Hexe weiterlebte oder als Opfer starb.
Nur wenige Minuten später traf Nicole Duval vor Sybils Wohnung ein und schickte das Taxi in die City zurück…
***
Sonia Parker wunderte sich darüber, wie gut sie den Weg kannte, den sie nehmen mußte. Stück für Stück bildete sich das Wissen in ihrem Bewußtsein. Sie fuhr über den Junipere-Serra-Boulevard südwärts, erreichte den Golden-Gate-Friedhof weit draußen im Süden vor der Stadt und war froh, daß er nicht das Ziel war. Obgleich sie eine schwarzmagische Hexe werden wollte, hatte sie vor Friedhöfen eine eigentümliche Scheu. Vor allem nachts…
Sie wechselte auf den Skyline-Boulevard, der durch San Bruno führte. Rechter Hand war der San-Andreas-See, links tauchten die Scheinwerfer eines Flugzeuges am Himmel auf, das auf dem Flughafen im Süden landen wollte. Dahinter war die San Francisco Bay.
Aber ihr Ziel lag in den Hügeln südlich von San Bruno.
Sie fuhr, bis sie fast San Mateo erreicht hatte. Die Straße war leergefegt. Nachts um drei war hier draußen kaum jemand unterwegs. Oben, in der Nordstadt, mochte das Leben jetzt noch pulsieren, wenn auch bei weitem nicht mehr so hektisch wie am Tage.
In Höhe von San Mateo bog Sonia ab. Sie verließ die Straße und ließ das gestohlene Taxi durchs Gelände rollen. Der Boden war hier hart und fest nach der langen Trockenperiode. Die Tage, an denen es in Florida und Kalifornien regnete, ließen sich an den Fingern abzählen.
Das Funkgerät quäkte. Mary-Lou, das Mädchen aus der Taxi-Zentrale, rief nach Serge Wainstein, der sich doch melden sollte. Sonia lächelte böse. Wainstein hatte dazu im Moment nicht die geringste Chance. Und niemand wußte, wohin das Taxi unterwegs war. Hier draußen im Gelände würde man es allenfalls bei Tage entdecken.
Die Scheinwerferkegel fraßen sich durch die Dunkelheit, rissen Bodenunebenheiten und Sträucher und Bäume aus der Nacht. Plötzlich war da eine Art Trampelpfad, und dann endete dieser Weg auch wieder. Sonia sah eine kleine Fläche. Hier ging es nicht weiter.
Das Hexen-Wissen in ihr verriet ihr, daß sie hier warten solle.
Sie war am Ziel.
Sie schaltete Beleuchtung und Motor aus und lehnte sich zurück. Sie hoffte, daß sie nicht zu lange warten mußte. Überhaupt - es war ja nicht einmal eine Zeit vereinbart worden! Was, wenn die Hexen noch gar nicht wußten, daß Sonia Parker erfolgreich gewesen war?
Sie werden es wissen, raunte eine innere Stimme. Bleib ruhig. Sie kommen bald. Und dann… dann …
Dann fiel die Entscheidung über Leben und Tod.
Die rechte Fondtür wurde aufgestoßen, und Su Ling hetzte in die Nacht hinaus.
***
Nicole stürzte in einen Abgrund. Erschreckt riß sie die Arme hoch und versuchte sich
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