0368 - Der Henker kam nach 20 Jahren
Überwachungsabteilung. Er stellte eine Gruppe von Leuten ab, die die Wohnungen der Gang-Mitglieder im Auge behielten für den Fall, daß einer von ihnen zurückkam.
Im ersten Grau des dämmernden Morgens saßen Phil und ich in unserem Büro. Wir waren müde von der schlaflosen Nacht.
Phil hatte die Beine auf die Schreibtischplatte gelegt und schaukelte auf den Hinterbeinen seines Sessels.
»Ob Carlyle ahnt, daß ’ne Menge Leute hinter ihm herlaufen, alle mit der Absicht, ihm das Gold abzunehmen, für das er zwanzig Jahre abgesessen hat?« überlegte mein Freund laut.
»Wahrscheinlich ahnt er nichts«, antwortete ich. »Er glaubt vermutlich immer noch, zwanzig Jahre eisern geschwiegen zu haben, aber das wird ihn nicht veranlassen, unvorsichtig zu sein.«
»Dieses Gold hat schon vor zwanzig Jahren alle, die es besitzen wollten, ins Unglück gestürzt. Carlyle wurde angeschossen und kam vor Gericht. Sein Kumpan Calhoun mußte die Staaten verlassen. Jack Rogan, der die Barren in Dollarscheine verwalten sollte, bekam nichts davon zu sehen. Jetzt fängt das Rennen nach dem gleichen Mammon zum zweiten-Mal an, und wieder fordert die Gier danach Opfer. Herbie Stock war das erste Opfer, dann folgte Rogan, der nicht einmal mehr etwas mit dem Gold zu schaffen haben wollte, der aber hineingezogen wurde, weil er vor zwanzig Jahren bereit war, sich hineinziehen zu lassen.«
Phil nahm die Beine vom Tisch.
»Dabei weiß niemand, ob Carlyle das Gold nicht längst besitzt. Alle rennen sie in New York herum: Kilroy, seine Kumpane Hook, Lucky Man und Sokow, das ›Geiergesicht‹ und wir, und niemand weiß, ob der alte Carlyle nicht längst mit einigen Dutzend Goldbarren im Koffer raum eines Wagens auf dem Weg in den Süden ist. Carlyle befindet sich nahezu zehn Tage in Freiheit. Wenn er wirklich weiß, wo die Barren liegen, und wenn nicht irgendein anderer darauf gestoßen ist, während er seine Strafe absaß, dann müßte er die Beute längst zum zweiten Male in seinen Besitz gebracht haben.«
»Er ist auf Schwierigkeiten gestoßen«, antwortete ich. »Er hätte sich nicht bemüht, einen Gehilfen zu finden, wenn er nicht auf Schwierigkeiten gestoßen wäre.«
»Okay, aber er hat den Gehilfen gefunden.«
»Stimmt«, gab ich zu. »Wenn es uns gelingt, den gleichen Jungen auizutreiben, werden wir erfahren, ob- Carlyle das Gold besitzt, von dem er zwanzig Zuchthausjahre lang träumte.«
»Und wenn er ihn…« Phil machte . eine Handbewegung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen überließ.
»Carlyle hat keinen Mord begangen, als er das Gold zum ersten Male raubte.«
»Aber er war bereit dazu. Damals, als er die Handgranaten warf, fragte er nicht danach, ob die Männer des Begleitschutzes mit dem Leben davonkamen, und sie hatten nur Glück, daß sie davonkamen. Glaubst du, er würde heute davor zurückschrecken, einen lästigen Mitwisser umzubringen?«
»Du hast recht, Phil. Zwei Morde sind schon begangen worden, aber es können n6ch mehr Morde verübt werden, weil sie alle bereit sind, für das-Gold vor keinem Verbrechen zurückzuschrecken. Wir werden uns die Aufgabe teilen. Du suchst nach Kilroy und seiner Gang und damit gleichzeitig nach dem ,Geiergesicht. Ich werde mich bemühen, den -Jungen zu finden, und ich hoffe, über ihn an Carlyle zu gelangen.«
***
Meine Suche nach dem Jungen, den Kenneth Trough als schmal, sommersprossig, rothaarig und nicht älter als zwanzig Jahre beschrieben hatte, begann nach ein paar Stunden Schlaf, und sie begann dort, wo ich den Jungen nicht zu finden hoffte, im Leichenschauhaus.
Der Beamte blätterte seine Karteikarten durch.
»Schmal, sommersprossig, rothaarig«, wiederholte er die Merkmale, die ich ihm genannt hatte. »Hm, wir haben nur einen unbekannten Toten mit roten Haaren, aber der Arzt schätzt sein Alter auf ungefähr vierzig Jahre.«
, »Ich möchte ihn zur Vorsicht doch sehen.«
Mein Job bringt es mit sich, daß ich das Schauhaus nicht selten besuchen muß, aber immer wieder kostet es mich Überwindung, den kahlen, mit Fliesen ausgelegten Raum zu betreten, dessen kalte Luft sich schwer auf die Brust legt. Ich kenne keinen unheimlicheren Anblick als die Wand mit den Schubfächern, jedes so groß wie ein Sarg, jedes mit einem Edelstahlgriff an der Stirnseite und dem kleinen Schild unter dem Griff, auf dem nichts steht außer einer Nummer.
Der Beamte überprüfte die Nummer mit der Karteikarte in seiner Hand. Er zog die Schublade auf.
»Ist das der Gesuchte?« fragte
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