038 - Der Geistervogel
bulliger Mann mit weißblondem Haar und tiefbraunem Gesicht. Er trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel aufgerollt waren und unglaublich stämmige Unterarme entblößten. Er grinste Jan freundlich zu, stellte das Glas ab, das er eben abgewaschen hatte und deutete mit dem Daumen zur Küchentür. Jan grinste zurück und trat in die Küche, in der Haike und ihre Mutter mit einem Küchenmädchen arbeiteten.
„Guten Tag“, sagte Jan. Haike hob den Kopf und lächelte, sie umarmte Jan und küßte ihn zärtlich auf die Lippen, dann löste sie sich von ihm, und er drückte ihrer Mutter die Hand.
Marlies Petersen sah gar nicht wie Haikes Mutter aus, sie wirkte eher wie ihre ältere Schwester. Ihr kurzgeschnittenes Haar war um eine Spur dunkler als das ihrer Tochter. Ihr hübsches Gesicht hatte noch keine Falten, und sie war schlank. Ihr Busen war üppig, hoch angesetzt und so stattlich, daß fast jeder Mann einen zweiten Blick darauf warf. Einige der Gäste wurden öfters zu vorgerückter Stunde frech und versuchten die hübschen Hügel näher zu erforschen, was schon manchem eine ordentliche Maulschelle eingebracht hatte.
„Vater sagte mir, daß du mich dringend sprechen willst, Haike.“
„Stimmt“, sagte Haike. „Es geht um Silke. Kann ich eine halbe Stunde fortgehen, Mutter?“
Marlies nickte. „Aber nicht länger, Kind.“
„Ich verspreche es“, sagte Haike. Sie wusch sich die Hände, dann gingen sie durch den schmalen Korridor, der an den Toiletten vorbei zum Hinterausgang führte.
Haike drückte sich ungestüm gegen Jan, schlang ihre Arme um seinen Nacken und küßte ihn wild auf die Lippen.
Schwer atmend löste sie sich nach einiger Zeit. „Ich bin froh, daß du wieder da bist, Jan“, sagte sie.
„Ich auch“, erwiderte Jan. „Du fehlst mir immer mehr. Am liebsten würde ich gar nicht mehr fortgehen, sondern ganz bei dir bleiben.“
Sie küßte ihn wieder, diesmal aber sanft und zärtlich.
„Was ist mit Silke?“ fragte er, als sie das Wirtshaus verlassen hatten.
„Sie ist völlig aus dem Häuschen“, berichtete Haike. „Meiner Meinung nach sieht sie Gespenster. Sie hat mindestens zwanzig Pfund abgenommen, die Wangen sind eingefallen.
Sie hat Alpträume, die aber auch den Tag über anhalten.
Heute behauptete sie doch allen Ernstes, daß die Möbel lebendig wurden und nach ihr griffen.“
„Und was soll ich nun tun?“
„Mit ihr sprechen.“
„Und wie stellst du dir das vor, Haike? Auf der Überfahrt waren Silkes Eltern auf dem Schiff, sie beachteten mich nicht. Und jetzt soll ich zu ihnen gehen? Er läßt mich sicherlich nicht mal ins Haus. Du hast doch meinem Vater erzählt, daß Thorensen die wildesten Gerüchte über mich verbreitet.“ „Versuche es wenigstens, Jan.“ Jan schüttelte entschieden den Kopf. „Nein“, sagte er. „Es dürfte besser sein, du gehst zu Silke, und wir unterhalten uns mit ihr anderswo.“
„Das wird nicht gehen“, sagte Haike. „Sie verläßt heute nicht das Haus.“ „Weshalb verläßt sie das Haus nicht?“
„Eine schwarzgekleidete Frau ist ihr im Traum erschienen, die sie gewarnt hat, das Haus zu verlassen.“
„So wie bei Ingrun“, sagte Jan. „Ich frage mich, ob diese ganze Insel übergeschnappt ist.“
„Das frage ich mich auch manchmal. Gut, ich werde mit Silke sprechen, vielleicht kann ich sie dazu bewegen, daß sie aus dem Haus kommt. Wenn es mir nicht gelingt, dann kannst du dich ja morgen mit ihr unterhalten.“ Sie schlenderten auf Silkes Haus zu. Jan blieb stehen, während Haike zur Eingangstür ging und läutete. Es dauerte fast eine Minute, bis die Tür geöffnet wurde. Guna Thorensens Kopf erschien. Sie blickte Haike ausdruckslos an.
„Kann ich Silke sprechen?“ sagte Haike.
„Wer sind Sie, Fräulein?“ fragte Guna. Ihre Gesichtszüge waren starr. „Ich bin doch Haike, Frau Thorensen, erkennen Sie mich denn nicht?“ „Nein, ich kenne Sie nicht“, sagte Guna.
Jan hatte interessiert zugehört und schlenderte näher.
„Kennen Sie mich. Frau Thorensen?“ rief Jan.
Guna wandte ihm den Kopf zu, blickte ihn kurz an, dann schüttelte sie verneinend den Kopf.
„Ist Ihr Mann da, Frau Thorensen?“ fragte Haike.
„Nein“, sagte sie. „Er ist Silke suchen gegangen.“
„Sind Sie ganz sicher, daß Silke nicht im Haus ist?“ Guna hob leicht die Schultern. „Mein Mann sagte es, und ich glaubte ihm. Er ist Silke suchen gegangen. Wer sind Sie, und was wollen Sie von Silke?“ „Wir sind Freunde von Silke“,
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