038 - Der Geistervogel
freute sich, daß er Haike gefunden hatte und sich wieder mit seinen Eltern verstand.
Während der Überfahrt hatte er Gerd und Guna Thorensen gesehen, sie freundlich gegrüßt, doch sie hatte auf seinen Gruß überhaupt nicht reagiert, und er hatte ihn nur finster angeblickt.
Jan wußte, daß Thorensen die wildesten Gerüchte über ihn verbreitete, doch er hatte keine Lust, es auf eine Auseinandersetzung mit ihm ankommen zu lassen.
Er war aber über den Anblick entsetzt, den Gerd und Gunda Thorensen boten. Beide mußten krank sein.
Seine Gedanken kreisten oft um den mysteriösen Tod Ingruns und das Verschwinden von Erna Nielsen. Er wußte noch nichts davon, daß Erna Nielsens Leiche gestern von Silke gefunden worden war.
Es fiel ihm auch auf, daß er, so oft er auf der Insel schlief, Alpträume hatte und sich am nächsten Tag wie zerschlagen fühlte.
Aber im Augenblick dachte er nur an Haike. Er lächelte, als er an sie dachte, und beschleunigte seine Schritte. Doch zuerst ging er zum Haus seiner Eltern, das eines der ersten Häuser des Dorfes war. Er stieg die Warft hoch und öffnete die Tür. Das Haus war klein, ein uralter Bau, der von seinem Urgroßvater errichtet worden war. Die winzigen, niedrigen Räume machten einen düsteren Eindruck.
„Hallo“, rief Jan fröhlich. „Ich bin’s.“ Seine Eltern saßen im Wohnzimmer. Er trat ein, stellte seinen Seesack ab und drückte seiner Mutter einen Kuß auf die Wange. Sie war eine mittelgroße Frau, deren dunkles Haar in den letzten Jahren einem tristen Grau weichen mußte. Ihre sanften Augen waren umschattet. Die Schönheit schwand mit den Jahren dahin, hatte Falten und Krähenfüßen weichen müssen. Es war das Gesicht einer Frau, die ein intensives Leben geführt und jeden Augenblick bis zur Neige genossen hatte.
Er drückte seinem Vater die Hand. Er hatte Fotos von ihm gesehen, als er ein junger Mann gewesen war. Er war überrascht gewesen, wie gut sein Vater ausgesehen hatte.
Jetzt gehörte er zu den Sechzigjährigen. Ein großer breitschultriger Bär, der seine Freude meist hinter einem unwillig klingenden Brummen verbarg. Das Haar war ihm schon mit Dreißig büschelweise ausgegangen, jetzt wies der Schädel nur noch einen schmalen, schneeweißen Haarkranz auf.
„Was ist mit euch los?“ fragte Jan und setzte sich.
Sein Vater brummte.
„Silke fand gestern Erna Nielsen“, sagte seine Mutter. „Sie lag am Strand. Tot.“
„Das befürchtete ich“, sagte Jan.
Sein Vater sog an der alten Pfeife. „Das ist aber nicht alles“, sagte er bedächtig. „Dieser Thorensen erzählt überall herum, daß du mit den seltsamen Vorfällen zu tun hast.
Haike erzählte es mir.“
Jan seufzte. „Das war zu erwarten.
Er machte doch schon die ganze Zeit so eigenartige Andeutungen. Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als ein ernsthaftes Wort mit ihm zu reden.“
„Laß das lieber bleiben“, sagte sein Vater und blies den Rauch zur Decke. „Das ist zwecklos. Es hört ohnedies kaum jemand auf diesen Unsinn.“
„Diesem Gerede muß einmal ein Ende bereitet werden“, sagte Jan böse. „Ich habe keine Lust, mir diese Unverschämtheit noch länger bieten zu lassen.“
„Sei friedlich, Sohn. Den Aberglauben kann man nicht ausrotten. Es kursieren so dumme Gerüchte, daß es fast unglaublich ist.“
„Was sind das für Gerüchte, Vater?“
„Darüber will ich gar nicht sprechen“, sagte er. „Vor einer halben Stunde war Haike hier. Du sollst sofort zu ihr kommen. Geh zu ihr. Es ist dringend.“
Jan stand auf. „Sagte sie, worum es geht?“
„Irgend etwas mit Silke. Sie soll übergeschnappt sein. Hat Alpträume und sieht Gespenster.“
„Bis später“, sagte Jan und ging zum Wirtshaus, das Haikes Eltern gehörte. Das Lokal war ziemlich groß, alt und unmodern. Aber Haikes Eltern hatten nicht das notwendige Geld, um es zu renovieren. Das Lokal hieß „Zum alten Friesen“, was kein besonders origineller Name war, aber keinen störte.
Das Wirtshaus war schon gut besucht, mehr als die Hälfte der Tische waren besetzt. Die Männer tranken vor dem häuslichen Abendbrot rasch noch ein Bier und ein paar Klare.
Jan grüßte freundlich, er kannte alle Anwesenden seit seiner frühesten Jugend, doch nur wenige grüßten zurück, die meisten wandten sich peinlich berührt ab.
Jan ließ sich von dieser feindseligen Reaktion nicht beirren und schlenderte zur Theke, hinter der Haikes Vater stand.
Fritjof Petersen war Mitte Vierzig, ein
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