038 - Verbotene Sehnsucht
die Beine aus dem Bett, spürte den Teppich unter den bloßen Füßen.
Durch das Dunkel tappte er zum Fenster und zog die schweren Vorhänge beiseite.
Der Mond stand hoch über den Dächern der Stadt, sein Licht kalt und fahl. In seinem blassen Schein zog Sam sich an, warf das schweißnasse Nachthemd beiseite und schlüpfte in Breeches, Hemd, Weste, Beinlinge und Mokassins.
Auf leisen Sohlen schlich er aus seinem Zimmer. In den weichen Mokassins bewegte er sich nahezu lautlos. Er lief die weite Marmortreppe hinab in die große Halle. Hier hörte er Schritte sich nähern und zog sich ins Dunkel zurück. Im flackernden Schein einer Kerze erkannte er seinen Butler - im Nachthemd, in der einen Hand die Kerze, in der anderen eine Flasche. Als er an ihm vorüberging, konnte Sam die Whiskyfahne riechen. Er lächelte still. Was würde der arme Mann sich erschrecken, wenn er wüsste, dass sein Herr kaum einen Armbreit von ihm entfernt im Dunkeln lauerte!
Wahrscheinlich würde er die Herrschaft für verrückt halten.
Sam wartete, bis der Kerzenschein verschwunden und des Butlers Schritte verklungen waren. Eine weitere Minute noch stand er reglos und lauschte, doch alles blieb ruhig. Lautlos löste er sich aus dem Dunkel und schlich durch die leere Hinterküche zum Dienstboteneingang. Der Schlüssel wurde auf dem Sims der großen Feuerstelle verwahrt, doch er besaß ein Duplikat. Er öffnete die Tür und zog sie hinter sich ins Schloss. Draußen war es angenehm kühl, und er musste ein leichtes Frösteln unterdrücken. Einen Augenblick verharrte er im Schatten der Tür, lauschte, spähte, witterte. Außer einem kleinen Tier, das leise im Gebüsch raschelte, und dem plötzlichen Miauen einer Katze nahm er nichts wahr. Kein Mensch war in der Nähe. Er huschte durch den schmalen Küchengarten, streifte Minze, Petersilie und Kräuter, deren Geruch er nicht benennen konnte. Dann war er endlich draußen, in der kleinen Gasse hinter dem Haus, wo er sich abermals vergewisserte, dass niemand in der Nähe war.
Er begann zu laufen. Seine Füße setzten so leicht und lautlos auf dem Pflaster auf wie die samtenen Pfoten einer Katze. Dennoch blieb er vorsichtshalber im Schatten, den die Stallungen warfen. Er wollte nicht dabei gesehen werden, wie er sich heimlich in die Nacht hinausstahl. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb er sich keinen Kammerdiener hielt.
Als er etwas weiter an einem Hauseingang vorbeilief, stach ihm Uringestank in die Nase, und er wich auf die Straße aus. Er war zehn Jahre alt gewesen, als er zum ersten Mal in einer Stadt gewesen war - und nicht einmal in einer besonders großen.
Auch nach dreiundzwanzig Jahren erinnerte er sich noch immer daran, wie ihn der Gestank schockiert hatte. Der grauenhafte Gestank Hunderter Menschen, die zu dicht beieinanderlebten und nirgends Platz hatten, sich ihrer Pisse und Scheiße zu entledigen. Er hatte kaum noch aufhören können zu würgen, als ihm zum ersten Mal bewusst geworden war, dass das nie versiegende braune Rinnsal, das inmitten der Pflastersteine hinabrann, praktisch eine offene Kanalisation war. Eine der ersten Lektionen, die Pa ihn gelehrt hatte, war, seinen Unrat zu vergraben. Tiere waren schlau. Wenn sie Menschen witterten, hielten sie sich fern. Und keine Tiere hieß keine Nahrung. So einfach war das gewesen, damals in den weiten Wäldern Pennsylvanias.
Aber hier, wo die Menschen dicht an dicht lebten und ihren Unrat sich in der Gosse anhäufen ließen, wo der Geruch nach Mensch wie ein Nebel über der Stadt hing, durch den man sich mühsam hindurchkämpfen musste, hier war alles komplizierter.
Noch immer gab es Jäger und Gejagte, aber ihre Gestalt hatte sich gewandelt, und manchmal war es unmöglich zu sagen, wer Jäger und wer Gejagter war. Diese Stadt war viel gefährlicher als die amerikanische Wildnis mit ihren wilden Tieren und marodierenden Indianern.
Seine Füße trugen ihn an eine Kreuzung, die er leichtfüßig überquerte, bevor er weiter die Straße hinunterlief. Ein junger Mann trat durch das Tor eines eleganten Stadthauses - ein Dienstbote, der so spät von einer Erledigung zurückkehrte? Sam rannte dicht an ihm vorbei, doch der Mann drehte sich nicht nach ihm um. Vielleicht hatte er ihn nicht einmal bemerkt. Flüchtig nahm Sam den Geruch von Bier und Pfeifenrauch an ihm wahr.
Lady Emeline roch nach Zitronenmelisse. Wieder hatte er den angenehm frischen Duft bemerkt, als er sich heute Mittag über ihre blasse Hand gebeugt
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