038 - Verbotene Sehnsucht
nicht ändern. Im Moment kam es einzig darauf an, so schnell wie möglich zu laufen. Das Laufen bestimmte sein ganzes Sein.
Sie waren irgendwo auf der Fleet Street gewesen, als es nicht mehr weitergegangen war, doch Sam hatte die große Straße rasch hinter sich gelassen und lief nun parallel zur Themse, die hinter den Häuserzeilen zu seiner Rechten liegen musste.
Er spürte, wie seine Beinmuskeln sich spannten, als er das Tempo zu steigern versuchte. So - voll wilder Hoffnung und Verzweiflung, als renne er um sein Leben - war er seit Spinner's Falls nicht mehr gerannt. Doch sosehr er sich auch abgekämpft hatte, damals war er zu spät gekommen. Reynaud hatte er nicht retten können.
Während er einem jungen Mädchen auswich, das ein kleines Kind auf dem Arm trug, prallte er in einen stämmigen Mann mit Lederschürze. Der Mann fluchte deftig und wollte handgreiflich werden, doch Sam war längst an ihm vorbeigezogen. Die Füße taten ihm weh, stechende Schmerzen fuhren ihm von den Sohlen bis in die Schienbeine. Wahrscheinlich hatte er sie sich erneut wund gelaufen.
Und auf einmal schlug ihm der Gestank entgegen.
Ob er noch von dem Mann mit der Lederschürze herrührte oder ob seine erhitzte Fantasie ihm nur einen Streich spielte, wusste er nicht, aber er roch Schweiß.
Männerschweiß. Oh, Gott, nein. Bitte nicht. Nicht jetzt. Angestrengt hielt er die Augen offen und befahl seinen Beinen weiterzulaufen, obwohl er sich am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen hätte und zu Boden gesunken wäre. Die Toten von Spinner's Falls schienen ihn zu verfolgen. Unsichtbare Gestalten, leblose Körper, die nach Blut und Schweiß stanken. Geisterhände, die ihn am Ärmel zupften und ihn anflehten, auf sie zu warten. In den Wäldern von Spinner's Falls hatte er sie auch gespürt, diese Geister der Toten. Bis nach Fort Edward waren sie ihm gefolgt, den ganzen langen Weg. Manchmal hatte er sie gar gesehen, den Jungen mit seinen in Todesangst weit aufgerissenen Augen, den Alten, den sie skalpiert hatten. Er hatte nie gewusst, ob er nur träumte, im Halbschlaf rannte oder ob die Toten von Spinner's Falls sich seiner bemächtigt hatten, ihre toten Seelen in ihn gefahren waren. Vielleicht trug er sie ja seitdem stets mit sich herum und merkte es nur in Zeiten größter Not. Vielleicht würde er sie immer bei sich tragen, so wie manche Männer noch Granatsplitter unter der Haut trugen, einen stillen, unsichtbaren Schmerz, der sie auf immer daran erinnerte, was sie durchgemacht hatten.
Er rannte durch einen Schwall Wasser, das ihm bis an die Hüften spritzte - nicht, dass es noch etwas ausgemacht hätte, war er doch ohnehin schon bis auf die Haut durchnässt. Mittlerweile musste er näher am Fluss sein, denn er konnte nun das brackige Wasser riechen. Große Lagerhäuser erhoben sich zu beiden Seiten der Straße. Sein Atem ging keuchend, und er hatte stechende Schmerzen in der Seite. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, hätte nicht sagen können, wie lang oder wie weit er schon gelaufen war. Was, wenn sie bereits an Bord des Schiffes waren? Was, wenn Thornton sie schon umgebracht hatte?
Auf einmal stand ihm ein schreckliches Bild vor Augen: Emeline, leblos am Boden, ihr Körper nackt und blutüberströmt, das Gesicht still und bleich. Nein! Er kniff die Augen fest zusammen, um das Bild zu vertreiben, und stolperte prompt, stürzte auf Händen und Knien auf das nasse Pflaster.
„Pass doch auf, Mann!", brüllte eine erboste Männerstimme.
Nachdem Sam die Augen wieder geöffnet hatte, sah er Pferdehufe, nur eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt. Noch immer auf allen vieren und begleitet vom deftigen Fluchen des Fuhrmanns, brachte er sich in Sicherheit. Seine Knie taten ihm weh, vor allem das rechte, welches wohl die volle Wucht des Sturzes abbekommen hatte. Dennoch stand Sam sofort wieder auf.
Ohne weiter auf den Fuhrmann zu achten, ohne auf seinen keuchenden Atem zu achten, der ihm die Lungen brennen ließ, ohne auf seine Schmerzen zu achten, rannte er weiter.
Emeline.
Die Kutsche fuhr einen weiten Bogen, und als Emeline aus dem Fenster schaute, konnte sie den Hafenanleger sehen. Noch immer goss es in Strömen, und die großen Schiffe, die auf der Themse dümpelten, verschwammen hinter einem Regenschleier.
Zwischen den großen Schiffen fuhren kleine Boote hin und her, die Waren und vereinzelt auch Menschen von Bord ans Ufer oder vom Ufer an Bord beförderten.
Für gewöhnlich herrschte an der Princess Wharf ein
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