038 - Verbotene Sehnsucht
so weit zu ihr herab, dass sie schwach seinen Atem wahrnahm, den erfreulich angenehmen Geruch aber nicht benennen konnte.
„Sie sind vermutlich kleinere Städte gewohnt." Sie raffte ihren Rock ein wenig, als eine wenig einladend aussehende Pfütze vor ihnen auftauchte. Mr. Hartley wich umsichtig aus und zog Emeline dabei näher an sich. Für einen kurzen Augenblick spürte sie durch Wolle und Linnen hindurch die Wärme seines Körpers.
„Stimmt. Boston ist kleiner als London", erwiderte er. Sie traten wieder auseinander, und zu ihrem größten Bedauern stellte sie fest, dass sie seine Wärme vermisste. „Aber genauso beengt. Ich bin überhaupt keine Städte gewohnt."
„Sind Sie auf dem Land aufgewachsen?"
„Eher in der Wildnis."
Die Antwort überraschte sie, und sie wandte sich just in dem Moment zu ihm um, als er sich ihr abermals zuneigte. Plötzlich war sein Gesicht nur noch eine Handbreit von dem ihren entfernt. Um seine kaffeebraunen Augen zeigten sich wieder feine Falten, die sich noch vertieften, als er sie lächelnd ansah. Unter seinem linken Auge bemerkte sie eine feine, blasse Narbe, die ihr zuvor nicht aufgefallen war.
Sie sah beiseite. „Wurden Sie also von Wölfen aufgezogen, Mr. Hartley?"
„Fast." Seine Stimme klang belustigt, wenngleich sie einen harten Unterton verriet.
„Mein Vater hat als Fallensteller in den Wäldern von Pennsylvania gearbeitet. Wir haben in einer Holzhütte gewohnt, an deren unbehauenen Balken noch die Rinde war."
Das klang in der Tat sehr primitiv. Um ganz ehrlich zu sein, so konnte sie sich sein Zuhause nur schwerlich vorstellen. Es war anders als alles, was sie kannte. „Und wie wurden Sie unterrichtet, bevor Sie aufs Internat kamen?"
„Von meiner Mutter habe ich Lesen und Schreiben gelernt", sagte Mr. Hartley. „Und mein Vater hat mir beigebracht, wie man Spuren liest, Fallen stellt, jagt und in den Wäldern überlebt. Der Wald war sein Zuhause."
Sie kamen an einem Buchladen vorbei, dessen leuchtend rotes Ladenschild so tief hing, dass es fast Mr. Hartleys Dreispitz streifte. Emeline räusperte sich. „Ich verstehe."
„Wirklich?", fragte er. „Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, ist ganz anders als das hier." Mit einem kurzen Nicken deutete er auf das geschäftige Treiben um sie her.
„Können Sie sich einen Wald vorstellen, in dem es so still ist, dass man die Blätter fallen hört? Bäume, die so riesig sind, dass ein ausgewachsener Mann ihren Stamm nicht mit seinen Armen umfangen kann?"
Sie schüttelte den Kopf. „Es fällt mir schwer, es mir vorzustellen. Ihre Wälder sind mir sehr fremd. Aber Sie haben diese Wildnis dann doch verlassen, nicht wahr?"
Während er eben noch seinen Blick über die vorbeieilende Menschenmenge hatte schweifen lassen, sah er nun sie an.
Sie holte tief Luft und schaute in seine dunklen Augen. „Das muss eine große Umstellung für Sie gewesen sein, die Freiheit des Waldes gegen das Leben im Internat einzutauschen."
Ein kurzes Zucken der Mundwinkel, dann sah er beiseite. „Das war es, aber Kinder sind anpassungsfähig. Ich habe schnell gelernt, mich an die Regeln zu halten, und wusste bald, von welchen Jungen ich mich besser fernhalte. Und ich war groß und stark, schon damals. Das hat geholfen."
„Oh ja, Internate können die Hölle sein", sagte sie schaudernd.
„Und Jungs kleine Ungeheuer, geradewegs der Hölle entsprungen."
„Und die Lehrer?"
Er zuckte die Achseln. „Die meisten waren durchaus kompetent. Einige waren grantige, glücklose Männer, die Kinder nicht leiden konnten. Aber andere liebten ihren Beruf von ganzem Herzen und waren gut zu uns."
„Wie verschieden doch Ihre Kindheit von der Ihrer Schwester war", meinte Emeline nachdenklich. „Sagten Sie nicht, dass sie in Boston aufgewachsen ist?"
„Ja." Zum ersten Mal meinte sie Besorgnis - oder Unbehagen? - aus seiner Stimme herauszuhören. „Manchmal kommt es mir so vor, als wären wir zu verschieden."
„Wirklich?" Gespannt sah sie ihn an. Was in ihm vorging, zeigte sich so verhalten, so flüchtig auf seinem Gesicht, dass sie sich wie eine Hellseherin vorkam, wenn sie versuchte, aus seiner Miene schlau zu werden.
Er nickte düster. „Ich mache mir Sorgen, dass sie nicht all das von mir bekommt, was sie braucht."
Sie sah starr geradeaus und überlegte, was sie darauf erwidern sollte. Sorgte sich etwa irgendeiner der Männer ihrer Bekanntschaft in dieser Weise um die Frauen in seinem Leben? Waren ihrem Bruder ihre Bedürfnisse
Weitere Kostenlose Bücher