0383 - Londons Gruselkammer Nr. 1
Angst, Junge, ihr werdet mich immer hören.«
Sie hätten eigentlich die ganze Runde machen müssen, um den Weg zu finden, der sie zum Ausgang brachte.
Selbstverständlich existierte ein Hauptgang, von dem die anderen abzweigten und zu den Nischen mit den gruseligen Ausstellungsstücken führten, aber die Familie hatte sich ein wenig vom Hauptgang entfernt, so daß Heinz Gerber ihn erst wiederfinden mußte.
Es dauerte nicht lange, da hatte er ihn entdeckt. Für einen Moment blieb er stehen.
Von seiner Familie hörte er nichts mehr. Auch wenn sie sich unterhielten, würde kaum etwas zu verstehen sein, denn die dicken Mauern reduzierten den Stimmenwirrwarr auf ein Flüstern.
Gut, auch Heinz Gerber war über die Szenen erschüttert gewesen, aber Angst hatte er nicht empfunden. Das war alles vergangen, solche Foltermethoden hatte es früher gegeben, wobei man in der heutigen Zeit auch nicht humaner war. Aber die Methoden waren »feiner« geworden. Als er zwischen den feuchten Mauern stand und den Gruftgeruch aufnahm, wurde ihm doch komisch zumute. Auch konnte er die Gänsehaut nicht mehr vermeiden, die seinen Rücken hinabkroch und einfach nicht wegzubekommen war.
Er ging zwei Schritte vor.
Fast erschrak er über seine eigenen Tritte. So laut hörten sie sich plötzlich an.
Etwas weiter vorn und auf der linken Seite befand sich wieder eine der Nischen, wo eine der grauenhaften Szenen dargestellt worden war, obwohl diese hier im Vergleich zu vielen anderen noch harmlos wirkte.
Heinz Gerber ging so weit vor, bis er in die Nische hineinschauen konnte.
Die Lampen waren in zwei Winkeln zwischen Wand und Decke angebracht worden und bestrahlten ein dreieckiges Galgengerüst, von dessen Querbalken drei Schlingen hingen.
Eine war nur »besetzt«.
In ihr hing ein in Lumpen gekleideter Mann, dessen Hände zusätzlich gefesselt waren. Hinter seinem Rücken lehnte eine Leiter an einem der Pfosten. Daneben stand eine Frau, die ihre Haare durch ein Kopftuch verdeckt hatte und einen Einkaufskorb in der rechten Hand trug. Ein Priester stand noch mit ausgebreiteten Armen vor dem Gehängten, als wollte er ihm den letzten Trost zusprechen.
Eine zweite Frau war ebenfalls noch vorhanden. Sie hatte die Hände gefaltet und starrte auf den in der Schlinge hängenden Toten.
Die Macher hatten es nicht nur verstanden, durch die fast lebensechten Puppen und Szenen eine lebensechte Atmosphäre zu schaffen, es war ihnen auch gelungen, das richtige Licht zu finden. Nicht helle Lanzen strahlten die Figuren an, es waren vielmehr grünblaue, düstere Farben, die der Szenerie einen leichenhaft blassen Ton gaben.
Heinz Gerber atmete tief durch. Dieses Bild hatte ihn so gefangen, daß er sich erst jetzt wieder an seine eigentliche Aufgabe erinnerte und einen Schritt weiterging.
Da sah er den anderen Mann.
Er hielt sich noch im Schlagschatten des Gerüstes auf, lehnte an der Wand und fiel nur deshalb auf, weil er anders als die übrigen Gestalten aussah.
Eine Hose aus Leder, ein Hemd ohne Ärmel, langes Haar, das im Nacken zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden war, und ein Messer in der Hand.
Heinz Gerber wußte nicht, daß er Kamikaze gesehen hatte.
Und der bewegte sich!
***
Edda hatte noch immer am meisten Angst. Sie faßte nach der Hand ihrer Mutter und fragte flüsternd: »Wann kommt Pappi denn zurück?«
Obwohl es Uta Gerber schwerfiel, beugte sie sich zu ihrer Tochter hinunter und lächelte dabei. »Gleich, mein Schatz, es kann nicht mehr lange dauern. Papa sucht nur nach dem richtigen Weg. Bald sind wir wieder draußen.«
»Und wenn er ihn nicht findet?«
»Ach, Kleine.« Uta lachte. »Hat Vater schon jemals etwas nicht gefunden?«
»Ja«, meldete sich Jörg. »Seinen Autoschlüssel, den hattest du aus Versehen in den Abfall geworfen. Ich habe ihn wieder herausgeholt. Da war vielleicht was los.«
»Hier sucht er ja keinen Schlüssel. Den Gang findet man leicht, glaub es mir.« Uta Gerber warf ihrem Sohn einen strafenden Blick zu. »Du solltest so etwas nicht sagen.«
»Immer muß er mich ärgern«, beschwerte sich Edda.
Jörg hob die Schultern. »Du bist ja auch kein Engel. Wenn ich nur daran denke, wie du mir…«
Bevor die beiden in Streit geraten konnten, erklang ein gezischtes »Pssst« aus dem Munde ihrer Mutter. »Um Himmels willen, keinen Streit, ihr beiden.«
Sie waren sofort still.
Uta Gerber hatte sich nicht umsonst so aufgeführt, denn ein Geräusch war an ihre Ohren geklungen. Wenn sie sich nicht sehr
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