04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Eure Ansicht. Nicht einmal Schwester Brónach, die Ihr als Eure Zeugin angegeben habt.«
»Niemand in der Abtei hat den Mut, sich gegen Draigen zu stellen, am allerwenigsten Brónach, diese selbsternannte Märtyrerin!«
Fidelma bemerkte, daß Torcán Bruder Febal mit neugieriger Miene musterte. Es war wieder einmal Olcán, der die Spannung auflöste, die in dem Gespräch plötzlich entstanden war.
»Nach allem, was ich so höre, glaube ich persönlich, daß es sich bei dem Mörder um einen Wahnsinnigen handelt. Es gibt so viele Geschichten über seltsame Gebirgsbewohner, die Leute überfallen und ermorden. Welcher normale Mensch würde denn einem Leichnam den Kopf abschneiden?«
»Dann müßt Ihr auch der Ansicht sein, daß unsere Vorfahren wahnsinnig waren.« Torcáns Tonfall war ernst, doch er lächelte, während er sprach. »Vor vielen, vielen Jahren war es nämlich weit verbreitet, einen getöteten Feind zu enthaupten.«
»Ich habe von diesem alten Brauch gehört«, bemerkte Fidelma. »Wißt Ihr mehr darüber?«
Der Sohn des Prinzen der Uí Fidgenti wählte sich mit dem Messer noch ein Stück Fleisch aus und antwortete mit einem Kopfnicken.
»Früher war das unter Kriegern allgemein üblich. Nach einer Schlacht schnitten die tapfersten Krieger den getöteten Feinden die Köpfe ab, hängten sie an ihre Streitwagen und fuhren im Triumphzug zurück zu ihren Festungen. Hat nicht der große Held Conall Cearnach gelobt, niemals ohne den Kopf eines Feindes unter seinem Knie schlafen zu gehen?«
»Warum sollten sie das tun?« wollte Olcán wissen. »Den Kopf ihrer Feinde abschneiden? Es war doch sicher schon schwierig genug, im Kampf zu überleben, auch ohne mit solch sinnlosen Dingen die Zeit zu vergeuden.«
Hierauf wußte Fidelma eine Antwort.
»In alten Zeiten, bevor das Christentum bei uns Einzug hielt, glaubte man, die Seele des Menschen sei im Kopf zu finden. Der Kopf galt als Sitz des Verstandes und der Vernunft. Was sonst konnte solche Gedanken hervorbringen, wenn nicht die Seele? Wenn der Körper starb, blieb die Seele dort, bis sie in die Anderswelt gelangte. Habe ich nicht recht, Bruder Febal?«
Bruder Febal zuckte zusammen, als sie ihn in so freundlichem Ton ansprach, und nickte widerwillig.
»Das glaubte man früher, soviel ich weiß. Bis vor kurzem galt es noch als Zeichen der Achtung und Zuneigung, wenn man jemandem bei der Begrüßung den Kopf in den Schoß legte.«
»Aber warum schnitten die Krieger ihren Feinden den Kopf ab?« wollte Olcán wissen.
»Das war so«, erklärte Torcán: »Unter den Kriegern herrschte früher die Überzeugung, daß sie sich durch das Abschneiden des Kopfes der Seele ihres Feindes bemächtigen konnten. War der Feind ein großer Kämpfer und siegreicher Held, dann – so glaubten sie – würde dadurch etwas von seiner Größe auf sie übergehen.«
»Eine primitive Vorstellung«, murmelte Olcán.
»Vielleicht«, räumte Torcán ein. »Anstatt all die Geschichten über die Heiligen und das Christentum zu lesen, solltet Ihr Euch besser die Erzählungen über unsere alten Helden anhören, zum Beispiel über Cuchullain, der mit seinem Streitwagen, mit Hunderten von Köpfen geschmückt, in Dún Dealg einfuhr.«
Adnár ermahnte seine Gäste.
»In Anwesenheit einer Frau ist das wohl kaum eine passende Unterhaltung.«
»An diesen Ritualen beteiligten sich sogar die großen irischen Kriegerinnen«, erklärte Torcán und ignorierte geflissentlich Adnárs Bemerkung.
»Ihr scheint eine Menge darüber zu wissen«, stellte Fidelma fest. »Sagt, Torcán, würde man auch den Kopf von jemandem abschneiden, der beispielsweise ein Mörder war?«
Torcán war von der Frage überrascht.
»Was veranlaßt Euch zu dieser Überlegung?«
»Reine Neugier.«
»In früherer Zeit spielte das keine Rolle, solange man die Person als großen Krieger, Helden oder Anführer seines Volkes betrachtete.«
»Wenn also jemand, der von den alten Traditionen durchdrungen ist, einen Feind träfe und diesen Feind als Mörder betrachtete, könnte er ihm ohne weiteres den Kopf abschneiden, sozusagen als Symbol?«
Olcáns schmales Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Ich beginne zu begreifen, worauf die Fragen der guten Schwester abzielen.«
Bruder Febal stieß ein entrüstetes Schnauben hervor und beugte sich tief über seinen Metkrug.
Torcán blickte verwundert drein.
»Das kann ich von mir nicht behaupten«, gab er zu. »Aber, um Eure Frage zu beantworten, möglich ist es. Warum fragt
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