04_Es ist was Faul
wir bloß den
Schreien zu folgen.«
20.
Schimären und Neandertaler
Das Neandertal-Experiment war ursprünglich dazu gedacht,
»medizinische Test-Einheiten« zu schaffen, wie der euphemistische Fachausdruck hieß: Lebewesen, die dem Menschen so nahe wie möglich standen, ohne tatsächlich Menschen im Sinne des Gesetzes zu sein. Sie wurden aus Zellen
eines Unterarms des so genannten Homo Llysternef neanderthalis gezüchtet, der in einem Torfsumpf in Wales entdeckt worden war. Das Experiment war ein bemerkenswerter wissenschaftlicher Erfolg. Die Goliath-Corporation
musste allerdings zu ihrem Leidwesen feststellen, dass auch
die abgebrühtesten Medizintechniker nicht bereit waren, an
den offensichtlich intelligenten, sprachbegabten Lebewesen
Experimente durchzuführen. Deshalb wurden die ersten
Neandertaler als »halbautomatische Kampfmaschinen« geschult. Aber auch dieses Projekt musste aufgegeben werden,
als sich herausstellte, dass den Neandertalern jeder aggressive Instinkt fehlte. Daraufhin wurden sie der Öffentlichkeit
als billige Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt und entwickelten sich bald zu einem beliebten SteuerabschreibungsObjekt. Der Homo sapiens hatte sich mal wieder als nicht
sehr sapiens erwiesen.
Gerhard von Squid,
Neandertaler. Rückkehr nach kurzer Abwesenheit
Das Brunel Centre war voller Menschen. Wie immer rannten
die Leute von einem Kaufhaus zum anderen und suchten nach
Schnäppchen. Die Preise waren schon seit Monaten von der
Zentrale festgesetzt worden, aber die Endverbraucher glaubten
fest daran, sie würden irgendwas billiger kriegen, wenn sie nur
fleißig herumrannten.
»Warum interessieren Sie sich plötzlich für ShakespeareKlone ?«, fragte Bowden, als wir über den Kanal kamen.
»In der BuchWelt gibt's eine Krise.«
Wir hatten keine Schwierigkeiten, Mr Stiggins zu finden. Wir
hörten einen markerschütternden Schrei, dann kamen uns
Dutzende von Männern und Frauen kreischend entgegen. Wir
bahnten uns einen Weg durch die Menge, mussten gelegentlich
über verlorene Schuhe und Einkaufstüten hinwegsteigen und
kamen schließlich zur Ecke Canal Walk und Bridge Street. Der
Grund für die Panik wurde rasch sichtbar. Vor einer Abfalltonne stand eine groteske Tiergestalt, im Fachjargon von SO-13
eine Schimäre, und wühlte nach einem leckeren Happen. Die
genetische Revolution, die uns grenzenlosen Zugang zu Ersatzorganen und die Möglichkeit zur Rekonstruktion von Dodos
verschafft hatte, hatte auch negative Folgen gehabt: Nicht
wenige Freizeit-Genetiker machten sich einen Spaß daraus, zu
Hause in ihren Hobbykellern lieber Gott zu spielen und verrückte Kreaturen zu schaffen, die mit dem strengen Gesetz der
Evolution nichts zu tun hatten.
Während sich die Menschenmenge auflöste, starrten Bowden
und ich das merkwürdige Wesen fasziniert an. Es war ungefähr
so groß wie eine Ziege und hatte auch deren Hinterbeine, aber
der Schwanz und die Vorderbeine stammten von einer Echse,
der Kopf hingegen war katzenartig. Es hatte mehrere Fangarme
mit Saugnäpfen und lutschte gierig an einem fettgetränkten
Stück Zeitung, in dem noch ein paar Fischgräten festhingen.
Dabei tropfte der Speichel aus seinem zahnlosen Maul auf den
Boden. Die Mehrzahl aller illegalen Hybridzüchtungen waren
Vögel, weil die meisten Arten dieser Klasse eng genug miteinander verwandt waren, um auch noch den ungeschicktesten
Gen-Bastlern Ergebnisse zu verschaffen, die halbwegs ansehnlich waren. Auch einen passablen Fuchswolfshund oder einen
Schmusejaguar konnte man sich zurechtklonen, wenn man
Mittelstufenkenntnisse in Biologie hatte. Aber weil die Leute
immer wieder versucht hatten, über die Klassengrenzen hinwegzuzüchten, musste das Laien-Klonen schließlich ganz
verboten werden. Die Eier legende Wollmilchechse und die
zahllosen anderen völlig verunglückten und sozial inakzeptablen Missgeburten waren es, was zum Verbot führte. Dem Ehrgeiz setzte das freilich kein Ende, die Hobby-Genetiker wurden
jetzt Schwarz-Kloner.
Die katzenartige Ziegenechse wühlte mit ihrer Hand in der
Tonne, fand die Überreste eines SmileyBurgers, starrte ihn mit
ihren fünf Augen an und stopfte ihn sich in den Mund. Dann
ließ sie sich auf den Boden fallen und rutschte fauchend und
mit den Fangarmen rudernd zur nächsten Mülltonne.
»O Gott«, sagte Bowden. »Das arme Ding hat einen menschlichen Arm.«
So war es tatsächlich. Solche menschlichen Körperteile
machten eine Schimäre
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