04 - komplett
er sich durchaus einfacher ausdrücken konnte, wenn er wollte.
Sich auf die Lippen beißend wandte sie sich ab und hörte, wie der Gastwirt lachend hinausging und die Tür hinter sich schloss. Mit dem Kinn wies Sir Charles auf ihr Glas.
„Trink aus, Liebchen, das wird dich stärken.“ Wie um ihr ein Beispiel zu geben, goss er den restlichen Wein aus dem seinen in sich hinein und wischte sich anschließend den Mund. „Welch bezaubernde Gelegenheit, uns besser kennenzulernen! So muss es wohl bestimmt sein, mein zartes Röselein!“
„Es ist genau, wie Sie es eingefädelt haben!“, bemerkte Eleanor in eisigem Ton und warf ihm einen scharfen Blick zu. Noch vor Kurzem hatte sie ihn für einigermaßen gut aussehend gehalten, korrigierte sich aber auf der Stelle. Charles Paulets braune Augen standen zu dicht beieinander, und im Verbund mit seiner langen, spitzen Nase erinnerte er sie an einen Fuchs.
„Wie weit ist es denn noch bis London, Sir?“, fragte sie wie beiläufig.
„Mindestens zehn Meilen, meine wunderschöne Lady Mostyn, weshalb ich fürchte, dass die Nacht uns hier überraschen wird“, gab er zur Antwort und entblößte grinsend die Zähne. „Du musst dich wohl mit deinem Schicksal abfinden, meine Süße. Mit Verläubchen, mein Täubchen ...“
Voll Abscheu funkelte Eleanor ihn an. „Und die Kutsche ...“
„Kann bedauerlicherweise heute nicht mehr repariert werden“, fiel Sir Charles ihr zufrieden ins Wort. „Aber morgen ist auch noch ein Tag, nicht wahr? Hier in unserer Schäferidylle flieht das Dunkel vor unserer Liebe Fülle ...“
Obwohl Eleanors Nerven durch Sir Charles’ poetische Ergüsse bereits strapaziert genug waren, schien es ihr nun ratsam, ihm in dieser Hinsicht zu schmeicheln, um Zeit zu gewinnen.
„Ach, könnten Sie mir nicht noch mehr von Ihrer Dichtkunst zum Besten geben?“, fragte sie also, wohlwissend, wie haarsträubend widersinnig ihr plötzlicher Stimmungswechsel, noch dazu mit dem schwärmerischen Anflug in ihrer Stimme, daherkam, aber sie gründete ihre Hoffnung darauf, dass des Poeten Eitelkeit seinen Intellekt überstieg.
Spitzbübisch drohte er ihr mit dem Zeigefinger. „Mein Kätzchen muss Geduld haben; sich später an meiner Poesie laben! Denn mit königlichem Mahl wartet der Wirt, ein edler Mann ...“
„... dann sehen wir mal, was er uns bringen kann!“, beendete Eleanor den Satz ein wenig grimmig.
„Nicht doch, meine Liebe, das ist kein guter Vers“, widersprach Sir Charles beleidigt, als die Tür aufging und der Gastwirt eintrat, diesmal ein Esstablett vor sich hertragend.
Sie erlaubte Paulet, ihr den Stuhl zurechtzurücken, und beobachtete verdrossen, wie er ihr gegenüber Platz nahm. Absurderweise nötigte er sie, eine Scheibe Rinderbraten zu kosten, als ob er sie zu einem Dinner in der guten Gesellschaft begleitet und nicht schnöde entführt hätte. Leise seufzend versuchte sie, einen Bissen hinunterzuwürgen, da ihr vorerst nichts Besseres einfiel, als ihren Entführer in Sicherheit zu wiegen, abzulenken und hinzuhalten.
„Vor ein paar Tagen haben Sie mir ein sehr wundervolles Gedicht gewidmet“, schmeichelte sie ihm. „Etwas über die Schönheit und die Nacht ...“
„In der Tat“, strahlte Sir Charles und wedelte begeistert mit seiner Gabel in der Luft herum. „Oh, wie sie lehrt die Fackeln, hell zu brennen in der Nacht, oh, wie sie ganz aus Schönheit scheint gemacht, hat sie mein einsam Herz fast umgebracht ...“
„Ja ...“, sagte Eleanor gedehnt und senkte den Kopf, damit ihr Lächeln sie nicht verriet. Wie konnte Sir Charles nur Elemente von Shakespeare und Lord Byron so ungünstig zusammenfügen, dass nichts als schwülstiger Unsinn herauskam? „Was sonst reimt sich auf ‚Nacht‘?“, fragte sie. „Als Dichter müssen Sie so viele inspirierende Begriffe kennen ...“
„Im tiefen dunklen Schacht ... hab ich nur an dich gedacht“, deklamierte Paulet voll Inbrunst, warf sich buchstäblich über den Tisch und langte nach ihrer Hand.
„Liebliche Lady Mostyn, ich wusste doch, dass wir zusammengehören; so, wie Sie meine Kunst verstehen! Auch wenn Sie, tugendhaft wie Sie geschaffen sind, erst an mir zweifeln mussten, bitte ich jetzt um Ihre Huld ...“
Eleanor, der bewusst war, dass ihr Entführer nur zu gern auf weiteres Dichten verzichtete, wenn er endlich ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen vermochte, schlug die Augen nieder.
„Ihre Gefühle schmeicheln mir, Sir Charles“, sprach sie geziert, „doch muss ich
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