04 - Mein ist die Rache
um seine Tochter, Mr. St. James. Kein Vater würde zulassen, daß ein anderer Mann seine Tochter dauernd quält. Jedenfalls nicht, wenn er es irgendwie verhindern kann. Da tut ein Vater alles, was in seiner Macht steht.«
St. James merkte den Köder sofort. Cotter betrachtete ihr morgendliches Gespräch offensichtlich noch nicht als abgeschlossen. Aber er brauchte die Frage, die Cotters Bemerkung herausforderte, gar nicht zu stellen. Er wußte die Antwort. Darum sagte er statt dessen: »Haben Sie von der Haushälterin etwas erfahren können?«
»Von Dora, meinen Sie? Wenig.« Cotter lehnte sich an das Geländer der Hafenmauer und stützte die Ellbogen auf die oberste Eisenstange. »Eines steht fest, sie bewundert den Doktor. Rackert sich ab von früh bis spät. Widmet sein Leben der Forschung. Und wenn er nicht forscht, besucht er Kranke in einem Sanatorium in der Nähe von St. Just.«
»Und das ist alles?«
»Scheint so.«
St. James seufzte. Nicht zum ersten Mal mußte er sich mit einer gewissen Resignation sagen, daß sein Gebiet die rein wissenschaftliche Arbeit war, die Untersuchung und Analyse von Spuren, die Interpretation von gefundenen Daten, die Abfassung von Berichten. In Bereichen, in denen einfühlende Kommunikation und intuitive Deduktion erforderlich waren, war er unerfahren. Mehr noch, er hatte Vorliebe oder Begabung weder für das eine noch für das andere. Und je tiefer er in den Morast von Spekulation und Mutmaßung geriet, desto unwohler fühlte er sich, desto stärker wurde das Gefühl der Frustration.
Aus seiner Jackentasche zog er den Zettel, den Harry Cambrey ihm am Samstagvormittag gegeben hatte. Warum nicht in dieser Richtung weiterforschen? Sie war auf jeden Fall so gut wie jede andere.
Cotter warf einen neugierigen Blick auf das Papier. »MP«, sagte er. »Mitglied des Parlaments?«
St. James blickte auf. »Was sagten Sie?«
»Die Buchstaben da. MP.«
»MP? Nein ...« Noch im Sprechen hielt St. James das Papier ins Sonnenlicht. Und er sah, was die schlechte Beleuchtung im Redaktionsbüro und seine eigene vorgefaßte Meinung ihn zu erkennen gehindert hatten. Der Stift, der dort, wo sich Fettflecken auf dem Papier befanden, nicht angegangen war, hatte auch bei den Buchstaben neben den Wörtern ›Beschaffung‹ und ›Transport‹ teilweise versagt. Der Kopf des Buchstabens P war so verwischt, daß bei flüchtigem Hinsehen nur der Aufstrich zu erkennen war und sich als die Ziffer 1 darstellte. Die Ziffer 6 mußte in logischer Folgerung in Wirklichkeit ein hastig hingeworfenes C sein.
»Mein Gott!« Stirnrunzelnd studierte er die Zahlen auf dem Papier. Harry Cambreys Theorie vom Waffenschmuggel außer acht lassend, brauchte er nicht lang, das Offenkundige zu sehen. 500.55.27500. Die letzte Zahl war das Produkt der beiden vorderen Zahlen. Hier endlich war eine erste Verbindung zu den Begleitumständen von Mick Cambreys Tod. Schon die Position der Daze - Nase nach Nordosten auf den Felsen - hatte auf sie hingewiesen. Er hätte an dem Gedanken, der ihm bei ihrem Anblick gekommen war, festhalten sollen. Er hatte auf die Wahrheit gezeigt.
Er sah die Küste Cornwalls vor sich. Lynley und seine Leute konnten jede einzelne Bucht von St. Ives bis Penzance durchsuchen, und es würde ihnen so wenig einbringen wie den Beamten von Zoll und Küstenwache, die eben dieses Gebiet seit zweihundert Jahren überwachten. Die ganze steile Felsküste war zerklüftet und ausgehöhlt, von unzähligen Buchten und Höhlen durchsetzt. Ein wahres Schmugglerparadies. Vorausgesetzt, die Schmuggler waren gute Seefahrer und verstanden es, ihre Boote zwischen den gefährlichen Riffen hindurchzumanövrieren.
Es konnte praktisch von überall gekommen sein, dachte er. Aus Porthgawara ebensogut wie aus Sennen Cove. Sogar von den Scilly-Inseln. Um Gewißheit zu erlangen, gab es nur einen Weg.
»Und weiter?« fragte Cotter.
St. James faltete das Papier. »Wir müssen Tommy finden.«
»Warum?«
»Um die Suchaktion abzublasen.«
19
Nach fast zwei Stunden fanden sie ihn auf der Landungsmole in der Lamorna-Bucht. Er kauerte am äußersten Rand der Mauer und sprach mit einem Fischer, der eben sein Boot festgemacht hatte und mit drei Rollen Tau über den Schultern müde die Stufen hinaufstieg. Auf halbem Weg blieb er stehen, um besser hören zu können, was Lynley über ihm sagte. Er schüttelte den Kopf und beschattete die Augen, um die anderen Boote im Hafen zu begutachten. Dann ging er, mit einer kurzen Handbewegung
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