04 - Mein ist die Rache
ein echter Journalist. Er wußte, was er tat. Er hörte den Leuten zu. Er redete mit ihnen. Er ging jedem Hinweis nach.«
Cambrey kam zur Karte zurück, faltete die Zeitung und benutzte sie als Zeigestab. »Die Waffen kommen nach Cornwall. Und wenn nicht nach Cornwall, dann in irgendeinen Hafen im Süden. Von Sympathisanten, vielleicht aus Nordafrika oder Spanien. Vielleicht sogar aus Frankreich. Sie kommen also irgendwo an der Südküste ins Land - Plymouth, Bournemouth, Southampton, Portsmouth. Sie werden für den Transport auseinander genommen, per Lastwagen nach London befördert und zusammengesetzt. Von dort aus dann die M1 rauf zur M6 und weiter nach Liverpool, Preston oder Morecambe Bay.«
»Aber warum sie nicht gleich nach Irland befördern?« fragte St. James und wußte die Antwort schon, ehe er das letzte Wort ausgesprochen hatte.
Ein ausländisches Schiff, das in Belfast anlegte, erregte eher Verdacht als ein englisches Schiff. Der Zoll würde es gründlich untersuchen. Mit einem englischen Schiff würde man großzügiger verfahren. Denn warum sollten die Engländer Waffen ins Land schmuggeln, die gegen sie selbst gerichtet werden würden?
»Aber auf dem Zettel stand mehr als nur M1 und M6«, wandte St. James ein. »Diese anderen Zahlen müssen auch eine Bedeutung haben.«
Cambrey nickte. »Wahrscheinlich sind es irgendwelche Registriernummern. Beziehen sich vielleicht auf das Schiff oder auf die Waffentypen. Es ist bestimmt irgendein Code. Ich bin sicher, Mick war auf dem besten Weg, das Geheimnis zu entschlüsseln.«
»Aber andere Aufzeichnungen haben Sie nicht gefunden?« »Was ich gefunden habe, reicht. Ich kenne meinen Jungen. Ich weiß, was er für einer war.«
St. James betrachtete nachdenklich die Karte. Er dachte über die Zahlen nach, die Mick auf das Papier geschrieben hatte. Er erinnerte sich, daß der Leitartikel über den Waffenschmuggel am Sonntag erschienen war, mehr als dreißig Stunden nach Micks Ermordung. Wenn zwischen beidem ein Zusammenhang bestand, dann hatte der Mörder bereits vorher von dem Erscheinen des Leitartikels in der Zeitung gewußt. St. James fragte sich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür war.
»Haben Sie hier auch frühere Ausgaben Ihrer Zeitung?« fragte er.
»Sicher. Draußen.«
Cambrey führte ihn aus seinem Büro zu einem großen Schrank links von den Fenstern. Er zog die Türen auf. Stöße von Zeitungen lagen auf dem Boden. St. James zog den ersten Stapel vom Board und sah Cambrey an.
»Können Sie mir Micks Schlüssel besorgen?« fragte er.
Cambrey sah ihn verdutzt an. »Ich hab' hier einen Zweitschlüssel fürs Haus.«
»Nein. Ich meine alle seine Schlüssel. Er hatte doch sicher einen ganzen Bund. Auto, Haus, Büro? Können Sie mir die besorgen? Ich nehme an, Boscowan hat sie jetzt, Sie werden sich also einen Vorwand einfallen lassen müssen. Ich brauche sie für mehrere Tage.«
»Wozu?«
»Sagt Ihnen der Name Tina Cogin etwas?« fragte St. James statt einer Antwort.
»Cogin?«
»Ja. Eine Frau aus London. Mick scheint sie gekannt zu haben. Ich glaube, er hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung.«
»So wie ich Mick kenne, hatte er Schlüssel zu einem ganzen Dutzend Wohnungen.« Cambrey nahm sich eine neue Zigarette und ließ St. James mit den Zeitungen allein.
Eine Stunde lang sah er konzentriert die Ausgaben der letzten sechs Monate durch. Es brachte ihm nichts weiter ein als von Druckerschwärze verfärbte Hände. Soweit er feststellen konnte, kam Harry Cambreys Geschichte vom Waffenschmuggel nach Nordirland als Motiv für die Ermordung seines Sohnes ebenso in Frage wie alles andere, das die Zeitung zu bieten hatte. Seufzend drückte er die Schranktüren wieder zu.
Als er sich umdrehte, sah er, daß Julianna Vendale ihn interessiert beobachtete. Sie stand mit einer Tasse Kaffee bei der geräuschvoll blubbernden Kaffeemaschine in einer Ecke des großen Zimmers.
»Nichts?« Sie stellte die Tasse auf den Tisch und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
»Jeder sagt mir, er hätte an irgendeiner sensationellen Story gearbeitet«, sagte St. James.
»Mick hatte immer irgend etwas in der Mache.«
»Und wurden seine Sachen auch gedruckt?«
Sie zog die Brauen zusammen. Eine steile kleine Falte bildete sich zwischen ihnen. Sonst war das Gesicht völlig faltenlos. Aus seinem Gespräch mit Lynley wußte St. James, daß Julianna Vendale mindestens Mitte Dreißig war, vielleicht etwas älter. Aber ihr Gesicht wirkte jünger.
»Das weiß ich
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