04 - Mein ist die Rache
Gewohnheitstier und habe eben fast immer in London gearbeitet. Aber ich finde es herrlich hier, Tommy. Bilder überall. Es ist großartig. Wirklich.«
Lynley war wie erlöst. Und er schämte sich seiner früheren Zweifel. Er blieb auf der Treppe stehen. »Ich liebe dich, Deb.«
Ihr Gesicht wurde weich. »Ich dich auch, Tommy.«
St. James hatte schon die Tür zur Redaktion geöffnet. Drinnen roch es nach Arbeit. Telefone läuteten, Julianna Vendale saß an ihrem Schreibtisch und tippte konzentriert, ein junger Fotograf war dabei, mehrere Kameraobjektive zu reinigen, und in einem der kleinen Büros saßen drei Männer und eine Frau von Rauchwolken umhüllt in einer Besprechung. Cambrey war unter ihnen. »Anzeigen und Vertrieb« stand in verblichenen schwarzen Lettern auf der Glastür. Das Lärmen der Gäste unten im Pub drang gedämpft durch die alten Bodendielen herauf.
Als Harry Cambrey sie bemerkte, kam er zu ihnen heraus. Er trug eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. »Wir haben ihn heute morgen beerdigt. Um halb neun«, erklärte er.
Merkwürdig, dachte Lynley, daß Nancy das nicht erwähnt hatte. Aber es erklärte die Gefaßtheit, mit der sie sie empfangen hatte. Eine Beerdigung hatte etwas Endgültiges. Sie setzte dem Schmerz kein Ende, aber sie erleichterte es, mit dem Verlust umzugehen.
»Eine ganze Polizeimannschaft war auf dem Friedhof«, fuhr Cambrey fort. »Das erste Mal, daß die was getan haben, seit sie John Penellin eingelocht haben. So eine Idee! Daß John Mick getötet haben soll.«
»Vielleicht hatte er doch ein Motiv«, meinte St. James.
Er reichte Cambrey den Schlüsselbund zurück, den dieser ihm mitgegeben hatte. »Micks Vorliebe für Frauenkleidung. Kann die jemanden so wütend gemacht haben, daß er ihn tötete?«
Cambrey schloß die Finger um den Schlüsselbund. Er drehte seinen Mitarbeitern den Rücken zu und senkte die Stimme. »Wer weiß davon?«
»Sie haben es gut vertuscht. Praktisch alle Welt sieht Mick genau so, wie Sie ihn darstellten. Als echten Mann und Frauenhelden.«
»Was hätt' ich denn tun sollen?« fragte Cambrey. »Er war schließlich mein Sohn. Er war ein Mann.«
»Der am glücklichsten war, wenn er Frauenkleider trug.«
»Ich konnte es ihm nicht abgewöhnen. Ich hab's wirklich versucht.«
»Dann war das also nichts Neues?«
Cambrey steckte den Schlüssel ein und schüttelte den Kopf. »Er hat sich schon als Junge verkleidet. Immer wieder. Ich hab' ihn ein paarmal erwischt. Ich hab' ihm den Hintern versohlt. Ich hab' ihn splitterfasernackt auf die Straße rausgesetzt. Ich hab' ihn auf einem Stuhl festgebunden und so getan, als würd' ich ihm seinen Pimmel abschneiden. Aber es hat alles nichts genützt. Er hat es nicht gelassen.«
»Bis er tot war«, sagte Lynley.
Cambrey war intelligent genug zu erkennen, daß seine eigenen Worte eventuelle Unschuldsbeteuerungen zweifelhaft erscheinen lassen mußten. Aber das schien ihn nicht zu kümmern. Er sagte nur: »Ich schützte den Jungen so gut es ging. Ich habe ihn nicht getötet.«
»Ihre Schutzmaßnahmen haben gewirkt«, sagte St. James.
»Die Leute sahen ihn so, wie Sie ihn darstellten. Aber letztlich hätte er Ihren Schutz nicht wegen seiner unkonventionellen Neigungen gebraucht, sondern wegen einer Story, genau wie Sie vermuteten.«
»Es war der Waffenschmuggel, stimmt's?« Cambrey schnalzte mit den Fingern. »Wie ich gesagt hab'.«
St. James warf Lynley einen Blick zu, als suche er seinen Rat oder vielleicht sein Einverständnis, dem alten Mann neuen Schmerz zuzufügen, indem er ihm erklärte, was es mit den »Aufzeichnungen«, die Cambrey im Schreibtisch seines Sohnes entdeckt hatte, in Wahrheit auf sich hatte.
Lynley sah den alten Mann an, das Gesicht, das von Alter und Enttäuschung gezeichnet, von Krankheit ausgelaugt war. Er bemerkte die häßlichen Nikotinflecken auf den Fingern, als der Mann nach einer Flasche Bier griff, die auf seinem Schreibtisch stand. Soll ein anderer es ihm sagen.
»Wir wissen, daß er an einer Story über ein Medikament namens Oncomet arbeitete«, sagte Lynley.
St. James folgte seiner Führung. »Mick hat in London mehrmals eine Firma namens Islington Ltd. aufgesucht und dort mit einem Biochemiker namens Justin Brooke gesprochen. Hat er Ihnen je etwas über Islington oder Brooke gesagt?«
Cambrey schüttelte den Kopf. »Es ging um ein Medikament, sagen Sie?« Er schien sich erst darauf einstellen zu müssen, daß seine Vermutung, es sei um
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