04 - Mein ist die Rache
hab' ich ihn denn hingesteckt? Ich kann ja verstehen, daß sie gern ein bißchen nackte Haut zeigen, aber ich hab' ja wohl kaum die richtige Oberweite dafür. Es geht um diesen Hauch von Sinnlichkeit, haben sie mir erklärt. Die Verheißung, die Phantasien. So ein Quatsch. Ah, da ist er.«
Sie zog ein zerknittertes Kuvert aus der Tasche und reichte es ihrem Bruder.
»Was ist das?«
»Ein Brief. Zehn Tage hab' ich gebraucht, um Mama dazu zu bewegen, ihn zu schreiben. Ich mußte sogar noch für eine Woche mit zu David, um ihr klarzumachen, daß ich nicht lockerlassen würde.«
»Du warst bei Mutter?« fragte St. James ungläubig. »Ihr wart bei David in Southampton? Helen, hast du -«
»Ich habe einmal in Surrey angerufen, aber da meldete sich niemand. Und dann sagtest du, ich soll sie nicht beunruhigen. Weißt du noch?«
»Mama beunruhigen?« fragte Sidney. »Wieso? Weshalb?«
»Deinetwegen.«
»Weshalb hätte sich Mama meinetwegen beunruhigen sollen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte sie: »Zuerst fand sie die Idee natürlich total absurd.«
»Welche Idee?«
»Jetzt weiß ich auch, woher du deine Sturheit hast, Simon. Aber mit der Zeit hab' ich sie kleingekriegt. Na los, mach den Brief auf. Lies ihn vor. Helen soll es auch hören.«
»Verdammt noch mal, Sidney. Ich möchte wissen ...«
Sie packte ihn beim Handgelenk und schüttelte. »Lies!«
Er öffnete den Umschlag mit kaum verhohlener Gereiztheit und begann laut zu lesen.
Mein lieber Simon, Sidney ist offenbar entschlossen, mir keine Ruhe zu lassen, solange ich mich nicht bei Dir entschuldigt habe. Darum will ich es gleich tun. Nur gibt sich Deine Schwester natürlich nicht mit einem schlichten kurzen Wort der Entschuldigung zufrieden.
»Was ist das, Sid?«
Sie lachte. »Lies weiter.«
Ich hatte von Anfang an den Verdacht, daß es Sidneys Einfall gewesen war, die Kinderzimmerfenster zu öffnen, Simon. Aber da Du gegen die Beschuldigung keinen Protest einlegtest, fühlte ich mich verpflichtet, Dich zu bestrafen. Es fällt einem immer schwer, die eigenen Kinder zu bestrafen. Und es fällt einem noch schwerer, wenn man das unbehagliche Gefühl hat, das falsche Kind zu strafen. Sidney hat das alles nun lobenswerterweise aufgeklärt. Sie verlangte sogar, ich solle sie gründlich dafür verhauen, daß sie Dich damals zum Sündenbock machte, aber alles hat seine Grenzen. Laß mich Dich also um Verzeihung bitten, daß ich Dir damals die Schuld aufbürdete, es tut mir leid.
Es war schön, Sidney hier zu haben. Wir waren auch ein paar Tage bei David und den Kindern. Ich hoffe sehr, daß ich Dich auch bald einmal zu sehen bekomme. Bring Deborah mit, wenn Du kommst. Cotter hat der Köchin von ihr erzählt. Das arme Kind. Du solltest sie ein wenig unter Deine Fittiche nehmen, bis es ihr wieder besser geht. Alles Liebe, Mutter.
Sidney warf den Kopf zurück und lachte aus vollem Hals über die gelungene Überraschung. »Ist sie nicht wunderbar? Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie ich ihr zusetzen mußte, ehe sie das endlich schrieb. Hätte sie dir nicht sowieso Deborahs wegen schreiben wollen - du weißt ja, wie sie ist, immer besorgt, daß wir unsere soziale Ader vernachlässigen und in solchen Situationen nicht das Angemessene tun -, dann hätte ich sie wahrscheinlich nie dazu gebracht, dir diesen Brief zu schreiben.«
St. James spürte Helens Blick auf sich. Er wußte, welche Frage sie jetzt von ihm erwartete. Aber er stellte sie nicht. Seit zehn Tagen wußte er, daß etwas zwischen ihnen vorgefallen war. Cotters Verhalten hatte es ihm ebenso verraten wie die Tatsache, daß Deborah nicht mehr in Howenstow gewesen war, als er am Abend nach Trenarrows Tod aus Penzance zurückgekehrt war. Lynley jedoch hatte ihm nicht mehr gesagt, als daß er sie nach London zurückgebracht hatte. Und Cotter hatte eine so grimmige Zurückhaltung an den Tag gelegt, daß St. James es für klüger gehalten hatte, keine Fragen zu stellen. Er fragte auch jetzt nicht.
Helen jedoch fragte direkt wie immer: »Was ist denn mit Deborah?«
»Tommy hat die Verlobung gelöst«, antwortete Sidney.
»Hat Cotter dir das nicht gesagt, Simon? So, wie es Mamas Köchin erzählte, hat er am Telefon praktisch geschäumt. Er muß fuchsteufelswild gewesen sein. Nach allem, was ich hörte, hätte es mich nicht gewundert, wenn er Tommy zum Duell gefordert hätte. Und Tommy hat dir auch nichts gesagt? Das ist aber wirklich komisch. Oder vielleicht hat er Angst, daß du Satisfaktion
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