04 - Mein ist die Rache
klar: Er war nicht erreichbar, er war allein und wollte es so.
Aber heute abend würde er ihr nicht entkommen. Sie drückte auf den Klingelknopf. Einen Moment lang schoß ihr allen Ernstes der Gedanke durch den Kopf, er sei aus London fortgezogen - ein für allemal vor allem geflohen -, aber dann wurde es hinter dem Oberlicht in der Tür hell. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, die Tür wurde geöffnet, und Lynleys Diener stand wie eine Eule zwinkernd vor ihr. Er hatte Hausschuhe an, stellte Helen fest, und einen Bademantel über dem Pyjama. Verwunderung und Mißbilligung flogen über sein Gesicht. Er verkniff sich beides sofort, aber Helen hatte schon verstanden. Wohlerzogene junge Damen von Stand machten nicht nachts um elf Besuche bei unverheirateten Herren, ganz gleich, ob dies das zwanzigste Jahrhundert war oder nicht.
»Danke, Denton«, sagte sie fest und bestimmt und trat ins Vestibül, als hätte er sie freundlichst dazu aufgefordert. »Bitte sagen Sie Lord Asherton, daß ich ihn sofort sprechen muß.«
Sie legte ihren leichten Abendmantel auf einen Sessel im Vestibül ab.
Denton, der noch immer an der offenen Tür stand, blickte von ihr zur Straße hinaus, als versuche er, sich zu erinnern, ob er sie tatsächlich hereingebeten hatte. Ohne den Türknauf aus der Hand zu lassen, trat er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, unverkennbar hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, gegen diesen ungehörigen Besuch zu protestieren, und der Furcht, sich damit womöglich irgend jemandes Zorn zuzuziehen.
»Sein Lordschaft hat mich gebeten ...«
»Ich weiß«, sagte Helen mit einem Anflug von schlechtem Gewissen Denton gegenüber, der diesem Überrumpelungsmanöver offensichtlich nicht gewachsen war. »Ich habe schon verstanden. Er möchte nicht gestört werden. Ich habe ihn in den letzten zwei Wochen x-mal angerufen, Denton. Er hat mich nicht ein einziges Mal zurückgerufen. Ich habe begriffen, daß er in Ruhe gelassen werden möchte. So, damit wäre alles klar, und jetzt sagen Sie ihm, daß ich ihn sehen möchte.«
»Aber ...«
»Ich gehe schnurstracks in sein Schlafzimmer hinauf, wenn es sein muß.«
Denton gab klein bei und schloß die Haustür. »Er ist in der Bibliothek. Ich sage ihm Bescheid.«
»Nicht nötig. Ich weiß den Weg.«
Ohne sich weiter um Denton zu kümmern, der verdutzt zurückblieb, eilte sie die Treppe in den ersten Stock hinauf, ging den mit flauschigem Teppich ausgelegten Korridor entlang, an einer imposanten Sammlung alten Zinns vorbei, begleitet von den Blicken diverser längst verstorbener Asherton-Vorfahren.
Hinter sich hörte sie Denton beschwörend murmeln: »Mylady ... Lady Helen ...«
Die Tür zur Bibliothek war geschlossen. Sie klopfte einmal, hörte Lynleys Stimme und trat ein.
Er saß an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, Papiere vor sich ausgebreitet. Das erste, was Helen durch den Kopf schoß, als er aufblickte, war, daß sie keine Ahnung gehabt hatte, daß er jetzt zum Lesen eine Brille brauchte. Als er aufstand, nahm er die Brille ab. Er sagte kein Wort, sah nur an ihr vorbei zur Tür, wo mit Armesündermiene Denton stand.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Denton. »Ich hab's versucht.«
»Er hatte keine Chance«, sagte Helen. »Ich hab' mich einfach hereingedrängt.« Sie bemerkte, daß Denton einen Schritt weit ins Zimmer getreten war. Mit dem nächsten würde er ihr nahe genug kommen, um sie beim Arm zu nehmen und wieder hinauszuführen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er das ohne Lynleys Befehl tun würde, aber nur für den Fall, daß ein solcher Einfall ihm durch den Kopf spuken sollte, sagte sie: »Danke, Denton. Lassen Sie uns jetzt bitte allein.«
Denton starrte sie entgeistert an. Er sah Lynley an, der einmal kurz nickte. Daraufhin ging er aus dem Zimmer.
»Warum hast du mich nie zurückgerufen, Tommy?« fragte Helen, sobald sie allein waren. »Ich habe hier und im Yard angerufen. Ich war viermal hier und habe nach dir gefragt. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.«
»Tut mir leid, Schatz«, sagte er leichthin. »Ich hatte in letzter Zeit eine Menge Arbeit. Ich seh' mich kaum noch heraus. Möchtest du etwas trinken?«
Er ging zu einem Rosenholztisch, auf dem mehrere Karaffen und Gläser standen.
»Danke, nein.«
Er schenkte sich einen Whisky ein, trank aber nicht gleich.
»Setz dich doch.«
»Ich glaube, ich möchte lieber stehen.«
»Wie du meinst.« Er lächelte schief und kippte einen Teil seines Whiskys
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