04 - Mein ist die Rache
- wenn auch sehr bleich. Er war so vertieft in ein Gespräch mit Inspector Boscowan, daß er sie nicht bemerkte.
»Gott sei Dank«, flüsterte sie.
Noch während sie sprach, wurde die Haustür geöffnet. Lynley und Boscowan traten zur Seite, um die beiden Männer vorbeizulassen, die mit einer Trage in den Regen hinaustraten. Der Mensch, der auf ihr lag, war vom Kopf bis zu den Zehen mit einem Leintuch zugedeckt, als wolle man ihn so vor dem Regen und den Blicken der Neugierigen schützen. Erst als sie das sah, erst als sie hörte, wie hinter den Männern die Haustür zufiel, begriff Deborah. Dennoch suchte sie mit verzweifelten Blicken im Garten vor dem Haus, hinter den hell erleuchteten Fenstern, zwischen den Autos, an der Haustür. Sie suchte und suchte, als könne sie so noch etwas ändern.
Mr. Sweeney sagte etwas, aber sie hörte es nicht.
Ihre Kindheit, ihr Leben lief in Blitzesschnelle vor ihr ab, und zum ersten Mal verspürte sie weder Zorn noch Schmerz, sondern Einsicht. Völlige, allzu späte Einsicht.
»Simon!« schrie sie und stürzte zu dem Rettungswagen, in den man die Trage schon hineingeschoben hatte.
Lynley fuhr herum. Er sah sie blind zwischen den Autos hindurchlaufen. Einmal rutschte sie auf dem glitschigen Pflaster aus, rappelte sich aber gleich wieder auf. Und unablässig rief sie seinen Namen.
Sie warf sich gegen den Rettungswagen, rüttelte am Griff der hinteren Tür, um sie aufzureißen. Ein Polizeibeamter versuchte sie zurückzuhalten, ein zweiter kam ihm zu Hilfe. Sie trat mit den Füßen, sie schlug und kratzte. Einer packte ihren Arm. Sie biß. Und dabei schrie sie immer wieder seinen Namen. Mit hoher, wimmernder Stimme, die er, das wußte er, sein Leben lang immer dann wieder hören würde, wenn er sie am wenigsten hören wollte. Ein dritter Beamter kam seinen Kollegen zu Hilfe, um sie zu bändigen, aber sie entwand sich ihnen. Sie trommelte an die Tür des Rettungswagens.
Bis ins tiefste getroffen, wandte Lynley sich ab. Er öffnete die Haustür. »St. James«, rief er.
St. James stand mit Trenarrows schluchzender Haushalterin im Vestibül. Er sah zu Lynley hin, wollte etwas sagen, brach erschrocken ab, als er Deborahs Schreie hörte. Er berührte kurz die Schulter der jungen Haushälterin, dann ging er zu Lynley an die Tür und blieb abrupt stehen, als er sah, wie die Beamten die sich verzweifelt wehrende Deborah vom Krankenwagen wegschleppten. Er sah Lynley an.
Lynley wandte sich ab. »Geh zu ihr! Sie glaubt, du wärst es.« Er konnte dem Freund nicht ins Gesicht sehen. Er wollte ihn nicht sehen. Er hoffte nur, St. James würde handeln, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Aber nicht einmal diese Hoffnung erfüllte sich.
»Nein. Sie ist nur -«
»Geh, verdammt noch mal! Geh schon!«
Sekunden verstrichen, ehe St. James sich in Bewegung setzte. Als er auf den Vorplatz hinaustrat, zwang sich Lynley, aufzuschauen.
St. James ging um die Polizeifahrzeuge herum zu den Männern, die Deborah festhielten. Er ging langsam und beschwerlich. Er konnte nicht schneller gehen. Er rief laut Deborahs Namen. Er umfaßte sie und zog sie an sich. Sie wehrte sich weinend und schreiend, aber nur einen Moment lang, bis sie sah, wer es war, der sie hielt. Dann ließ sie sich in seine Arme fallen. Ihr ganzer Körper wurde von Schluchzen geschüttelte. Er neigte den Kopf zu ihr hinunter und streichelte ihr Haar.
»Es ist ja gut, Deborah«, hörte Lynley ihn sagen. »Es tut mir leid, daß du dich so erschreckt hast. Mir ist nichts passiert, mein Liebes.« Immer wieder sagte er es: »Mein Liebes, mein Liebes.«
Der Regen fiel auf sie herab. Um sie herum eilten geschäftige Polizeibeamte hin und her. Sie nahmen nichts davon wahr.
Lynley wandte sich ab und ging ins Haus.
Sie öffnete langsam die Augen. Ihr Blick traf die ferne, hochgewölbte Decke. Verwirrt starrte sie hinauf. Als sie den Kopf drehte, sah sie den Toilettentisch mit dem Spitzendeckchen, die silberne Bürstengarnitur, den altmodischen Ankleidespiegel. Urgroßmutter Ashertons Schlafzimmer, dachte sie. Und mit dem Wiedererkennen des Zimmers kehrten die anderen Erinnerungen zurück. Bilder der Bucht, des Redaktionsbüros, des wilden Laufs den Hügel hinauf, des verhüllten Toten auf der Trage stürmten auf sie ein. In ihrem Mittelpunkt war Tommy.
Auf der anderen Seite des Raums gewahrte sie schattenhaft Bewegung. Die Vorhänge waren zugezogen, aber ein schmaler Streifen Tageslicht fiel auf einen Sessel am offenen Kamin. Lynley saß
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