04 - Mein ist die Rache
kennten sie und Deborah einander schon seit Jahren. »Trinken Sie es aus. Ich trink jeden Tag mindestens fünf Gläser davon. Sie fühlen sich danach wie neugeboren, glauben Sie mir. Ich brauch' das, verstehen Sie, nach jedem ...« Sie brach ab und lachte. Ihre Zähne waren auffallend weiß und ebenmäßig. »Na, Sie wissen schon, was ich meine.«
Man hätte blind sein müssen, um nicht zu wissen, was die Frau meinte. In dem mit Rüschen und Volants überladenen Satin-Neglige wirkte sie wie ein wandelndes Aushängeschild ihres Gewerbes.
Deborah hielt das Glas hoch, das die Frau ihr gegeben hatte. »Was ist das denn?«
Es läutete. Die Frau ging zur Wohnungstür und betätigte den elektrischen Türöffner.
»Hier ist ja ein Betrieb wie auf dem Bahnhof.«
Sie wies mit dem Kopf auf das grüne Getränk, zog eine Karte aus der Tasche ihres Morgenrocks und reichte sie Deborah. »Da sind nur Säfte und Vitamine drin. Und 'n bißchen frisches Gemüse. Ein kleiner Muntermacher. Ich hab' Ihnen das Rezept aufgeschrieben. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, aber so wie das vorhin hier zuging, hab' ich das Gefühl, Sie können's brauchen. Trinken Sie. Na kommen Sie schon.« Sie wartete, bis Deborah das Glas zum Mund führte, ehe sie zu den Fotografien an der Wand hinüberschlenderte. »Schön. Von Ihnen?«
»Ja.« Deborah las die Zusammensetzung des Gebräus. Nichts Schlimmeres als Kohl, den sie immer schon verabscheut hatte. Sie stellte das Glas in der Küche ab und strich das Tuch glatt, das sie um ihre Hand gewickelt hatte. Während sie sich mit der unverletzten Hand über das Haar strich, sagte sie: »Ich sehe wahrscheinlich fürchterlich aus.«
Die Frau lächelte. »Ich lauf den ganzen Tag wie eine Vogelscheuche rum. Für mich fängt das Leben erst abends an. Wozu also tagsüber der Aufwand? Aber Sie sehen klasse aus, wenn Sie mich fragen. Na, wie hat der Saft geschmeckt?«
»Ich habe so etwas noch nie getrunken.«
»Was ganz Besonderes, nicht? Ich sollte das Zeug in Flaschen abfüllen und verkaufen.«
»Ja. Es ist gut. Sehr gut. Vielen Dank. Tut mir leid, daß wir solchen Krach gemacht haben.«
»Ach, das war doch 'ne tolle Szene. Ich hab' das meiste mitgekriegt - ist ja so hellhörig hier - und hab' schon gedacht, es gibt 'ne Schlägerei. Ich wohne gleich nebenan.« Sie wies mit dem Daumen nach links. »Tina Cogin.«
»Deborah Cotter. Ich bin gestern abend eingezogen.«
»Ach, darum das Gepolter.« Tina lachte. »Und ich hab' schon gedacht, ich krieg' Konkurrenz. Aber lassen wir das. Sie sehen mir nicht so aus, als ob Sie in unserer Branche sind.«
Deborah errötete. Danke schien kaum die passende Erwiderung.
Tina fand eine Antwort anscheinend ganz unnötig. Sie war in den Anblick ihres Spiegelbilds im Glasträger einer von Deborahs Fotografien vertieft, richtete ihr Haar, musterte kritisch ihre Zähne und schürfte mit langem Fingernagel zwischen den zwei vorderen. »Ich bin nur noch ein Wrack. Schminke schafft's auch nicht mehr. Vor zehn Jahren hat ein Hauch von Rouge gereicht. Und jetzt? Stunden vor dem Spiegel, und wenn ich fertig bin, seh' ich immer noch beschissen aus.«
Draußen klopfte es. Sidney, dachte Deborah. Sie war gespannt, was Simons Schwester zu dieser unerwarteten Besucherin sagen würde, die im Augenblick eine Aufnahme von Lynley studierte, als betrachte sie ihn als zukünftige Einnahmequelle.
»Möchten Sie nicht zum Tee bleiben?« fragte Deborah sie.
Tina wandte sich von dem Bild ab und zog eine Augenbraue hoch. »Tee?« sagte sie, als wäre ihr das Getränk schon seit Ewigkeiten nicht mehr über die Lippen gekommen.
»Lieb von Ihnen, Deb, aber danke, nein. Drei sind unter solchen Umständen ein bißchen viel. Glauben Sie's mir. Ich hab's probiert.«
»Drei?« stammelte Deborah. »Es ist eine Frau.«
»Ach, nein!« Tina lachte. »Ich sprach von dem Tisch, Schätzchen. Der ist ein bißchen klein, und beim Tee hab' ich immer zwei linke Hände, wissen Sie. Trinken Sie den Saft in Ruhe aus und bringen Sie mir das Glas gelegentlich rüber. Okay?«
»Ja. Danke. In Ordnung.«
»Und dann schwatzen wir ein bißchen.«
Mit einem kurzen Winken öffnete Tina die Tür, schob sich mit einem blitzenden Lächeln an Sidney St. James vorbei und verschwand.
3
Peter Lynley hatte die Wohnung in Whitechapel weder des Komforts noch der Lage wegen gewählt. Komfort hatte sie keinen zu bieten. Zwar war die Untergrundbahn bequem zu erreichen, aber das Gebäude, aus Königin Viktorias Zeiten
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