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04 - Mein ist die Rache

04 - Mein ist die Rache

Titel: 04 - Mein ist die Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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die Entfernung eines Staubkorns, das besonders hartnäckig auf dem Objektiv zu haften schien.
    Helen, die ihn schweigend beobachtete, sah, wie die Zeit und seine unselige Invalidität nach Kräften zusammenwirkten, um von Jahr zu Jahr das Bild, das er von sich als Mann hatte, immer mehr ins Verächtliche zu verzerren. Sie wollte ihm sagen, wie unrichtig und ungerecht eine solche Einschätzung war. Wie sehr er sich selbst unrecht tat. Aber das wäre Bemitleidung zu nahe gekommen, und niemals hätte sie ihn durch eine Äußerung von Mitgefühl verletzt, da er es nicht wollte.
    Das Geräusch der zufallenden Haustür ersparte es ihr, überhaupt etwas sagen zu müssen. Auf der Treppe waren eilige Schritte zu hören, so schnell und leicht, daß sie nur die eine Person ankündigen konnten, die genug Schwung besaß, die steilen Stufen wie im Flug zu bewältigen.
    »Ich wußte doch, daß ich dich hier finden würde.« Sidney St. James drückte ihrem Bruder einen Kuß auf die Wange, ließ sich auf einen Hocker fallen und sagte statt einer Begrüßung zu Helen: »Das ist ja ein tolles Kleid, Helen. Ist es neu? Wie schaffst du es nur, nachmittags um Viertel nach vier so todschick auszusehen?«
    »Ganz im Gegensatz zu dir.« St. James musterte demonstrativ den ungewohnten Aufzug seiner Schwester.
    Sidney lachte. »Lederhosen. Wie findest du sie? Ein Pelz gehörte auch noch dazu, aber den hab' ich dem Fotografen hinterlassen.«
    »Ein etwas schweres Outfit für den Sommer«, bemerkte Helen.
    »Ja, gräßlich nicht?« stimmte Sidney vergnügt zu. »Seit heute morgen um zehn lassen sie mich in Lederhosen und Pelzmantel und sonst nichts auf der Albert Bridge rumturnen. In verführerischer Pose auf dem Dach eines museumsreifen Taxis, während der Fahrer - ehrlich, ich möchte wissen, wo sie diese Dressmen immer herbekommen - mich beäugt wie ein lüsterner Spanner. Ach ja, und hier und dort natürlich ein Hauch nacktes Fleisch. Mein nacktes Fleisch. Der Fahrer dagegen braucht nur ein Gesicht zu machen wie Jack the Ripper. Ich hab' mir das Hemd hier von einem der Techniker ausgeborgt. Wir machen jetzt Pause, da habe ich gedacht, ich komm mal auf einen Sprung vorbei.« Neugierig sah sie sich um. »Und? Es ist vier vorbei. Wo bleibt der Tee?«
    St. James wies mit dem Kopf auf das Paket, das Helen an die Wand gelehnt stehengelassen hatte. »Wir sind heute nachmittag ein bißchen aus dem Trott.«
    »Deborah kommt heute abend nach Hause, Sid«, sagte Helen. »Hast du es gewußt?«
    Sidneys Gesicht leuchtete auf. »Wirklich? Na endlich! Dann sind das sicher ihre Aufnahmen. Wunderbar! Komm, linsen wir mal rein.« Sie sprang vom Hocker, schüttelte das Paket, als wäre es ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, und machte sich dann kurzerhand ans Auspacken.
    »Sidney!« mahnte St. James.
    »Was denn? Du weißt genau, daß es ihr nichts ausmachen würde.« Sidney warf das braune Packpapier weg, löste die Schnur, die die schwarze Mappe zusammenhielt, und griff nach dem ersten Bild auf dem Stapel, der darin lag. Nach eingehender Betrachtung pfiff sie beifällig durch die Zähne.
    »Mann, das Mädchen kann wirklich mit der Kamera umgehen.«
    »Das Bad«, stand flüchtig hingeworfen auf dem unteren Rand des Bildes. Es war eine Aktstudie von Deborah im Halbprofil zur Kamera. Sie hatte die Komposition mit bewundernswertem Blick zusammengestellt: eine niedrige Wanne mit Wasser; der zarte Bogen ihres Rückens; in der Nähe ein Tisch, auf dem neben Kamm und Haarbürste ein Krug stand; diffuses Licht spielte auf ihrem linken Arm, dem linken Fuß, der Rundung der Schulter. Es war eine Kopie von Degas' Bild »The Tub«.
    Helen blickte auf und sah St. James wie beifällig nicken. Er ging zu seinem Arbeitstisch zurück und begann, in einem Haufen von Berichten zu blättern.
    »Habt ihr's gewußt?« fragte Sidney ungeduldig.
    »Was denn?« entgegnete Helen.
    »Daß Deborah mit Tommy zusammen ist. Tommy Lynley. Mamas Köchin hat's mir erzählt, ob ihr's glaubt oder nicht. Und wenn's stimmt, was sie gesagt hat, dann ist Cotter ziemlich in Harnisch darüber. Ehrlich, Simon, du mußt ihm mal Vernunft beibringen. Und Tommy genauso. Ich finde es absolut unfair von ihm, daß er Deb mir vorzieht.« Sie kletterte wieder auf den Hocker und brachte ihn mit leichtem Anstoß zum Kreiseln. »Ach, dabei fällt mir ein. Ich muß euch unbedingt von Peter erzählen.«
    Helen war erleichtert über den Themenwechsel. »Von Peter?« hakte sie sogleich nach.
    »Stellt euch das vor.«

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