04 Verhaengnisvolles Schweigen
nie vorstellen, so etwas zu tun. Allein der Gedanke ans Gefängnis würde mich abschrecken. Und ich würde glauben, dass mir jeder meine Schuld ansieht. Als Kind habe ich einmal ein Zitronentörtchen aus dem Süßigkeitenladen gestohlen, während Mrs Wiggins sich gerade umgedreht hatte, und ich wurde sofort von Kopf bis Fuß rot. Nein, Chief Inspector, ich könnte nie einen Mörder abgeben.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Banks. »Dann brauche ich Sie jetzt wohl nicht mehr nach einem Alibi zu fragen, oder?«
Barber schaute ihn einen Augenblick verunsichert an. Dann begann er zu lachen.
»Stephen Collier«, sagte Banks.
»Ja, ja. Verzeihen Sie mir. Ich werde alt, ich neige zum Abschweifen. Aber zurück zu Stephen Collier. Er war einer derjenigen, die richtig hart arbeiten mussten, um durchzukommen. Viele andere besitzen eine natürliche Begabung, schreiben in der Nacht vor der Abgabe mal eben einen guten Aufsatz. Collier dagegen büffelte wochenlang in der Bücherei, wenn eine umfangreichere Arbeit fällig war. Gewissenhaft.«
»Wie kam er mit seinen Kommilitonen zurecht?«
»Ganz gut, soweit ich weiß. Doch Collier war eher ein Einzelgänger. Er war gern allein. Ich muss Ihnen wohl kaum erzählen, Chief Inspector, dass eine ganze Reihe junger Männer hier einen draufmachen wollen. Das ist immer so gewesen, im Grunde seit im dreizehnten Jahrhundert Studenten in diese Stadt kamen. Zwischen der Universitätsverwaltung und den Leuten von der Stadt hat es immer kleine Gefechte gegeben. Die Studenten sind nicht bösartig, nur heißblütig. Manchmal richten sie mehr Schaden an, als sie beabsichtigen.«
»Und Collier?«
»Ich bin mir sicher, dass er bei solchen Ausschweifungen nicht dabei war. Wenn es unerfreuliche Vorfälle gegeben hätte, dann wären sie in meinen Beurteilungen erfasst worden.«
»Hat er viel getrunken?«
»Ich hatte deswegen nie Probleme mit ihm.«
»Drogen?«
»Chief Inspector Banks«, sagte Barber langsam, »mir ist klar, dass die Universität in letzter Zeit durch Drogen und Ähnliches in Verruf geraten ist, und ohne Zweifel kommen solche Fälle vor. Aber wenn Sie auf die Medien hören, dann werden Sie ernsthaft irregeführt. Ich glaube nicht, dass Stephen Collier auch nur irgendwas mit Drogen zu tun hatte. Ich erinnere mich, dass wir damals einigen Ärger mit einem Studenten hatten, der Cannabis verkaufte, was sehr besorgniserregend war, aber es gab eine gründliche Untersuchung, und Stephen Collier war in keiner Weise in diese Sache verwickelt.«
»Also war Stephen Collier nach Ihren Erinnerungen ein vorbildlicher Student, wenn auch nicht ganz so intelligent wie manche seiner Kommilitonen?«
»Ich weiß, das klingt seltsam und ist sicher nicht leicht zu glauben, aber ja, das war er. Die meiste Zeit fiel seine Gegenwart hier kaum auf. Ich habe große Probleme, zu erraten, worauf Sie hinauswollen. Sie sagen, Stephen Colliers Tod könnte Selbstmord oder aber ein Unfall gewesen sein. Aber, bei allem Respekt, Ihre Fragen scheinen auf Hinweise zu deuten, dass Collier selbst eine Art Rabauke gewesen war.«
Banks runzelte die Stirn und schaute wieder aus dem Fenster. Der Schatten einer Wolke strich über den Innenhof. Er trank den Sherry aus und zündete sich eine Zigarette an. Sergeant Hatchley, der ruhig rauchend auf einem Stuhl in der Ecke saß, hatte sein Glas bereits vor einer Weile geleert und spielte jetzt damit herum, so als hoffte er, dass es Barber bemerken und ihn fragen würde, ob er nachschenken dürfe. Seine Hoffnung wurde erfüllt, und beide Polizisten nahmen dankend an. Banks mochte es, wie die trockene Flüssigkeit seine Geschmacksnerven zusammenzog.
»Er ist ein Verdächtiger«, sagte Banks. »Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wir haben keine Beweise, dass sich Collier eines Verbrechens schuldig gemacht hat, aber es besteht eine starke Wahrscheinlichkeit.«
»Spielt das noch eine Rolle«, fragte Barber, »jetzt, da er tot ist?«
»Ja, das tut es. Wenn er schuldig war, dann ist der Fall abgeschlossen. Wenn nicht, dann haben wir noch einen Verbrecher zu fassen.«
»Ja, ich verstehe. Aber ich kann Ihnen leider keine Beweise anbieten. Soweit ich mich erinnern kann, schien er mir ein angenehmer, hart arbeitender, unauffälliger Mensch zu sein.«
»Was war vor sechs Jahren? Da müsste er in seinem dritten Jahr gewesen sein, in seinem letzten. Ist damals etwas Ungewöhnliches passiert,
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