04 - Winnetou IV
seid keiner geworden“, fiel der ‚Junge Adler‘ ein.
Es war das erste Mal, daß er freiwillig zu Sebulon sprach.
„Nicht?“ fragte dieser. „Fehlt etwa noch etwas daran?“
„Ja.“
„Was?“
„Der Schwur.“
„Der Schwur? Man hat zu schwören? Etwas zu beeiden? Was?“
„Daß man seiner Schutzengelpflicht getreu sein will bis in den Tod. Die roten Männer brauchen keinen Schwur. Bei ihnen genügt der Handschlag, denn er ist ihnen ebenso heilig wie der Eid.“
„Uns auch!“ rief Hariman.
„Ja, uns auch!“ rief Sebulon.
„So steht auf!“ gebot er ihnen.
Sie taten es. Auch er erhob sich von seinem Sitz. In diesem Augenblick warf Pappermann ein großes, harziges Holzstück in das Feuer. Die Flamme loderte auf. Sie züngelte nach allen Richtungen. Da schien sich der Wald mit geistergleichen Wesen zu beleben. Die nächtlichen Schatten der Bäume und Sträucher bewegten sich. Sie huschten hin und her. Sie sprangen empor und sanken zu Boden.
„Reicht euch die Hände!“ befahl der junge Indianer.
Sie gehorchten. Da trat er ganz zu ihnen heran, legte seine Hand auf die ihrigen und forderte sie auf:
„Sprecht mir die Worte nach: ‚Unseren Schützlingen treu bis in den Tod!‘“
„Unseren Schützlingen treu bis in den Tod!“ erklang es vereint aus ihrem Mund.
„Dieses Wort ist unser Schwur! Sprecht das nach!“
„Dieses Wort ist unser Schwur!“ fügten sie hinzu.
„So! Nun erst könnt ihr behaupten, Winnetou geworden zu sein. Denn nicht der Stern tut es, sondern der Wille. Und diesen Willen habt ihr kundgegeben. Des bin ich Zeuge. Gebt auch mir, dem Zeugen, eure Hände!“
„Hier ist die meine“, sagte Hariman, indem er sie ihm gab.
„Und hier die meine“, sprach Sebulon.
Der junge Apatsche ergriff beide, die eine mit seiner Rechten, die andere mit seiner Linken und fragte:
„Seid ihr euch der Wichtigkeit dieses Augenblicks bewußt?“
Keiner antwortete. Da fuhr er fort:
„Was ihr nicht wißt, weiß Manitou, und was ihr nicht könnt, kann er. Wer andere beschützt, beschützt sich selbst. Indem ihr euch vorgenommen habt, die Engel eurer Schützlinge zu sein, sind in Wirklichkeit sie eure Engel geworden. Bleibt euch und ihnen treu! Das ist der einzige Dank, den sie von euch verlangen!“
FÜNFTES KAPITEL
Am Deklil-to
Ich hatte den nächsten Tag dazu bestimmt, einen Überblick über die ausgegrabenen Skripturen zu gewinnen, sah mich aber leider in der Hoffnung, dies tun zu können, getäuscht. Wir saßen noch beim Morgenkaffee, da tauchte am südlichen Rande der Lichtung die Gestalt eines Indianers unter den Bäumen hervor und kam auf uns zu. Es war der Winnetou von gestern abend. Er wendete sich nur an den ‚Jungen Adler‘. Uns andere schien er mit keinem Blick zu berühren. Er sprach seine Muttersprache, nicht englisch.
„Es kommen Reiter“, meldeteer.
„Woher?“ fragte unser junger Freund.
„Zwischen Nordwest und West.“
„Wie viele?“
„Eine große Schar. Man konnte sie nicht zählen. Sie waren noch zu weit entfernt.“
„So komm wieder, sobald es möglich ist, ihre Zahl zu bestimmen!“
Der Winnetou entfernte sich, kehrte aber schon nach vielleicht zehn Minuten zurück und berichtete:
„Es sind Reiter und Reiterinnen. Zwanzig und viermal zehn Squaws, mit vielem Gepäck auf Maultieren hinterher.“
„Wie weit entfernt von hier?“ fragte der ‚Junge Adler‘.
„Sie werden in einer Viertelstunde den Nugget-tsil erreichen.“
„Sie mögen kommen. Man beobachte sie, aber ohne sich von ihnen sehen zu lassen. Es sind die Squaws der Sioux, die nach dem Mount Winnetou wollen. Wer die Männer sind, das weiß ich jetzt noch nicht. Wir reiten von hier nach dem Deklil-to. Ich glaube nicht, daß ich deiner Hilfe noch einmal bedarf.“
Hierauf entfernte sich der Winnetou, ohne eine einzige Silbe, die nicht von seiner Pflicht geboten war, auszusprechen. Das war Disziplin! Als unser alter, guter Pappermann erfuhr, wen wir hier bei uns zu erwarten hatten, kam er in eine Aufregung, die er zwar verbergen wollte, aber nicht verbergen konnte. Die Gebrüder Enters fühlten sich unsicher. Sie fragten, ob sie sich vielleicht zurückziehen sollten.
„Ihr gehört jetzt zu uns, und ihr bleibt bei uns“, antwortete ich. „Wie ich eigentlich heiße, ist zu verschweigen.“
Damit war diese Sache abgemacht. Ich sah mit meinem Herzle den nahenden mit großem Interesse entgegen, obgleich ich es bedauerte, auf die Durchsicht der Manuskripte nun verzichten zu
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