04 - Winnetou IV
ihn erst an Ort und Stelle wiedersehen würden.
Wir kamen an noch mehreren anderen Wachstationen vorüber. Die dort befindlichen Indianer hielten uns nicht an. Sie wichen vor uns zur Seite. Die argwöhnischen Blicke, die sie dabei auf uns warfen, sagten nur zu deutlich, daß sie eine Instruktion erhalten hatten, die für uns keine freundliche war. Ich vermutete, daß uns durch Mr. Okih-tschintscha ein Empfang bevorstand, auf den uns zu freuen wir keine Veranlassung hatten.
Es gab Anzeichen, daß wir uns unserem Ziel näherten. Bei gewissen Krümmungen des Flusses erschien uns ein ganz eigenartig gebildeter Bergkoloß, der, je weiter wir vorrückten, immer höher und höher stieg und alle anderen Höhen, zwischen denen der Fluß sich hindurchzuwinden hatte, weit überragte. Schließlich lag ein Zelt oder ein Halbzelt an unserem Weg, bald wieder eins, hierauf wieder und wieder eins. Sie mehrten sich. Sie traten immer enger zusammen. Es sah ganz so aus, als ob wir durch die äußerste Gasse einer weit ausgedehnten Lagerstadt nach ihrem Mittelpunkt ritten. Vor diesen Zelten saßen Indianerinnen, die uns neugierig und mit ungewöhnlichem Interesse betrachteten. Man sah ihnen an, daß sie von unserm Kommen unterrichtet waren. Kinder gab es keine. Die hatte man nicht nach dem Mount Winnetou bringen dürfen. Auch Männer sahen wir nicht. Die waren uns schon voraus, um bei der Szene zugegen zu sein, die uns erwartete.
Nun verbreiterte sich das Tal des Flusses sehr schnell, bis die Uferhöhen plötzlich derart nach beiden Seiten zurückwichen, daß wir die ganze vor uns liegende Hochebene mit einem einzigen Blick zu überschauen vermochten. Der Eindruck, den das, was wir sahen, auf uns machte, war ein derartiger, daß wir wie mit einem gemeinsamen Ruck unsere Pferde und Maultiere anhielten.
„Herrlich! Herrlich!“ rief ich aus.
„Mein Gott, wie schön, wie schön!“ sagte das Herzle. „Gibt es denn wirklich so etwas auf Erden?“
Und der alte Pappermann stimmte ein:
„So eine Stelle habe ich freilich noch nicht gesehen, noch nie, noch nie!“
Man denke sich einen gigantischen, weit über tausend Meter aufsteigenden Riesendom, vor dem sich ein ebenso riesiger, freier Platz ausbreitet, der durch mehrere Stufenreihen in eine obere und eine untere Hälfte geschieden ist. Der Dom steht auf der westlichen Seite dieses Platzes und geht nach und nach in viele andere Türme über, die in perspektivischer Verjüngung im geheimnisvollen Blaugrau des Westens verschwinden. Auf den anderen drei Seiten ist der Platz von niedrigeren Bergen rundum derart eingefaßt, daß es nur eine einzige Lücke gibt, nämlich das Flußtal im Osten, durch welches wir heraufgekommen sind. Dieser Riesendom ist der Mount Winnetou. Sein Hauptturm steigt wie eine von den kühnsten Naturgewalten improvisierte Gotik hoch über die Wolken empor. Seine Zackenspitze besteht aus nacktem Gestein, welches aus weichen, grünschimmernden Mattendächern emporwächst. Zwischen diesen Zacken liegt weißglänzender Schnee, den unaufhörlich die Sonne küßt, bis er sich, in Liebe aufgelöst, aus Wasserstaub in Wasserstrahl verwandelt und dann von Stein zu Stein, von Schlucht zu Schlucht zur Tiefe springt. Da, wo der Turm sich zum eigentlichen Domgebäude weitet, sammeln sich diese Wasser und bilden mit den von den Nachbarbergen strömenden Bächen einen See, aus dem zu beiden Seiten je ein Wasserfall wohl über sechzig Meter schroff hinunterstürzt und dann, der eine nach Süden, der andere nach Norden, fließt, um die Hochebene, also den freien Domplatz, zu umfassen und dann im Osten sich zu dem Kekih Toli-Fluß zu vereinen, an dem wir heut heraufgeritten sind. Unterhalb der grünen Matten hoch oben auf dem Riesenturm beginnt der erste lichte, dann aber immer dunkler und dichter werdende Wald, der den See geheimnisvoll umfaßt und dann am Dom herniedersteigt, bis er den freien Platz erreicht und hierauf, sich in Gebüsch verwandelnd, in die saftgrasige Prärie der Ebene übergeht. Dieser See heißt Nahtowapa-apu. Am östlichen Teil des dicht bewachsenen Domes liegt das Portal, ein breit geöffnetes Höhental, in welchem man zum hohen, langen First des eigentlichen Bergmassives und zu dem ‚See der Medizinen‘ steigt. Über diesem Portal erhebt sich der Nebenturm des Mount Winnetou, welcher zwar nicht so hoch und nicht so schwer wie der Hauptturm ist, aber z.B. in Tirol doch als eine Dolomitennadel allerersten Ranges gelten würde. Auch er ist dicht bewaldet.
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