040 - Paris, Stadt der Sünde
dem so viele Gerüchte im Umlauf waren, und irgendwie ahnte sie, welchen Bann er auf Menschen ausübte.
„Miss Harriman?“ Seine sanfte Stimme holte sie aus ihrer Entrücktheit.
„Sehr freundlich“, murmelte sie und überlegte fieberhaft, mit welchem Titel sie ihn ansprechen sollte. Die Gerüchte über ihn waren wenig hilfreich dabei. Sie trat beiseite, und er folgte ihr in das schäbige kleine Haus. Nanny zurrte den Gürtel ihres geflickten Morgenmantels fest und rannte wie eine aufgeregte Henne hin und her.
Der Fremde nahm Lydias Arm in förmlicher Artigkeit. „Es wäre ratsam, wenn wir aus dem Weg gehen, damit die Männer genügend Platz haben. Ihre Haushälterin kann ihnen zeigen, wohin sie Ihre Frau Mutter bringen sollen.“
„Das ist Nanny Maude“, erklärte Lydia, während er sie in die winzige Wohnstube führte, in dem die winzige Flamme im Ofen kaum Wärme verbreitete. Es war lächerlich, das zu sagen, aber Lydia wollte ihre Nanny, die ihr so viel mehr bedeutete, nicht in der Rolle einer Dienerin sehen.
Der Fremde lächelte. Seine Mundwinkel zogen sich dabei hoch, was ihm ein noch verwegeneres Aussehen verlieh. „Ihre Nanny wird sich um sie kümmern“, sagte er weich. „Aber ich vergesse meine Manieren. Ich habe mich noch nicht vorgestellt.“
„Ich weiß, wer Sie sind, Mylord“, erklärte Lydia. Endlich war ihr sein Name eingefallen. „Sie sind der Comte de Giverney.“ Sie war fest entschlossen, keine Angst zu zeigen. „Sie sind mit dem Teufel im Bunde, feiern wüste Orgien und trinken das Blut von Jungfrauen. Sie sind die Fleisch gewordene Todsünde.“
Sein Lächeln, das ihn trotz der Narbe anziehend machte, wurde kalt. „Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Miss Harriman. Ich mag zwar aussehen wie der Teufel persönlich, aber in Wahrheit bin ich nur ein Mann ohne Titel mit einem hässlichen Gesicht und leeren Taschen. Charles Reading, zu Diensten.“
Lydia spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. „Sie sind nicht der Fürst der Finsternis?“
„Ich fürchte, Sie enttäuschen zu müssen.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Seine Lordschaft amüsiert sich mit Ihrer Schwester.“
5. KAPITEL
Einen Augenblick lang stand Lydia starr. „Sie sind nicht hässlich“, sagte sie dann.
Bevor er reagieren konnte, fügte sie hastig hinzu: „Und was macht der Comte mit meiner Schwester? Ich nehme an, die Gerüchte über ihn sind nichts als ...
Schauergeschichten, mit denen man Kindern Angst einjagt, damit sie folgsam sind.“
„Klappt das denn? Haben sie Ihnen Angst eingejagt?“
„Meine Kindheit liegt längst hinter mir, Mr Reading.“ Die seltsame Unterhaltung wurde unterbrochen von einer kleinen Prozession Diener, die Lady Caroline ins Haus schafften. Lydia beobachtete, wie sie sich verbissen mit erstaunlicher Kraft wehrte und zeternd und spuckend um sich schlug. Ein Diener fluchte, als ihn ihre Faust ins Gesicht traf, aber sie wurde unerbittlich durch den Flur ins Schlafzimmer geschleppt, gefolgt von Nanny Maude.
Als die Tür ins Schloss fiel, wandte Lydia sich dem Besucher wieder zu, der sie aus dunklen Augen neugierig musterte, ohne eine Spur von Mitleid. „Wie lange leidet Ihre Mutter schon an dieser Krankheit?“
„Schon seit einer Weile“, antwortete sie, vermochte den Blick nicht von ihm zu wenden. Für einen mittellosen Gentleman war er ausgesprochen elegant gekleidet, von der blütenweißen Halsbinde bis zu den glänzend polierten Stiefeln. Seine linke Gesichtshälfte war von beinahe überirdischer Schönheit. Die Narbe an der rechten Seite war schlecht verheilt und verwandelte diese Schönheit in ein Zerrbild.
„Ein Duell“, sagte er.
Sie blinzelte. „Wie bitte?“
„Sie fragen sich, woher ich diese Narbe habe. Kein Grund, verlegen zu werden. Diese Frage stellt sich jeder, der mich zum ersten Mal sieht.“
„Ich bin nicht verlegen ... daran habe ich keineswegs gedacht. Ich mache mir Sorgen um meine Schwester.“
„Dann bitte ich ergebenst um Verzeihung. Können wir uns setzen? Ich bin etwas müde von dem langen Ritt, da ich keine Lust hatte, in der Kutsche zu reisen und mich von Ihrer Mutter mit üblen Flüchen und Schimpfnamen belegen zu lassen. Allerdings kann ich mich nicht setzen, wenn Sie mich nicht einladen und Ihrerseits Platz nehmen. Da ich befürchte, vergeblich auf diese Einladung zu hoffen, wollte ich Ihnen einen kleinen Tipp geben.“
„Bitte setzen Sie sich“, sagte Lydia verdutzt, setzte sich auf den harten Stuhl, um ihm den
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