0407 - Am Tisch des Henkers
Wirklichkeit. Mein Gefühl warnte mich davor, den Raum zu betreten, doch ich musste es tun.
Zudem erinnerte ich mich wieder an Suko. Wenn er hier in der Nähe war, weshalb hatte er dann nicht eingegriffen? Wollte oder konnte er nicht?
Das musste ich herausfinden, und so betrat ich den Schankraum deshalb zerfallenen Gasthauses.
Das Gefühl, dem unsichtbaren Tod gegenüberzustehen, verstärkte sich zusehends.
Zwei Petroleumleuchten brannten. Sie erhellten mit ihrem Licht nicht den gesamten Raum, aber was ich sah, reichte aus, um mich das Grauen erkennen zu lassen.
Drei Männer hatten sich hier zusammengefunden.
Jetzt waren sie tot!
Hingerichtet von einem Henker, von einer Person, die ich nicht als Mensch bezeichnen wollte, denn ich konnte es nicht fassen, dass Menschen so grausam waren, obwohl die Nachrichten täglich davon berichteten.
Ich schritt durch den Raum, ohne es richtig wahrzunehmen.
Dabei kam ich mir vor wie ein Schlafwandler. Ich wich den beiden am Boden liegenden Körpern aus, mein rechter Arm hing nach unten, die Mündung der Beretta zeigte zu Boden, sie fand kein Ziel.
Der Henker war verschwunden.
Aber er hatte drei Tote hinterlassen. Einer von ihnen saß noch am Tisch. Kopflos!
Ich möchte mir eine nähere Beschreibung ersparen, es war schlimm genug, und das Klima des Schreckens verflüchtigte sich nicht. Hier weilte nach wie vor der Tod als unsichtbarer Gast.
Ich hatte den Gastraum durchquert und stieß gegen einen Tisch.
Erst diese Berührung ließ mich aus der schlafwandlerischen Erstarrung erwachen. Plötzlich war ich wieder voll da, wenn sich auch das kalte Gefühl in meinem Nacken festgesetzt hatte.
Ich musste den Henker finden!
Und auch meinen Freund Suko!
Auf meinem Weg zum Ziel hatte ich niemanden aus der Tür des Gasthauses treten sehen. Ich war sicher, dass der Henker seine schaurige Umgebung noch nicht verlassen hatte, ging weiter und wandte mich dabei nach links, wo die Schatten der Finsternis dichter waren.
Trotzdem sah ich den Umriss einer Nische. Ich holte die Lampe hervor, strahlte hinein und fand die Nische leer.
Aber ich sah den Beginn einer in die erste Etage führenden Treppe aus altem Holz.
War der Henker über sie verschwunden?
Durch eine Drehung gelang es mir, mich in die Nische hineinzudrücken. Ich wollte die Treppe hochgehen, als ich von oben her das Geräusch vernahm. Es waren Schritte – und Stimmen.
Da wusste ich, dass ich richtig war und das Finale einläuten konnte.
***
Das untote Mädchen hielt Sukos Hände noch immer fest, nachdem sie das entscheidende Wort gesagt hatte.
Kali!
Der Name der Totengöttin. Ein furchtbarer Begriff. Ein Synonym für Grauen und Schrecken, für Totenkult und Zombies, für Wahn und Kannibalismus.
Das alles vereinigte die Göttin.
Und wieder sprach sie den Namen. »Kali. Ich gehöre Kali. Sie hat dafür gesorgt, dass ich lebe. Man durfte mich nicht töten. Wer es versucht, wird schrecklich dafür büßen. Wie diese drei Männer, die mich damals einfach nahmen und töten ließen, weil sie Angst davor hatten, dass ihre Taten ans Licht gerieten. Aber ich bin da, ich hole mir neue Männer. Du bist der erste Kandidat. Willst du?«
Es war eine Suggestivfrage. Nach Sukos vorherigen Handlungen hätte er sie eigentlich nur mit einem Ja beantworten können, doch er war ein Mensch, der vieles durchgemacht und den finsteren Mächten den Kampf angesagt hatte.
Oft hatten sie versucht, ihn zu töten, doch der Inspektor war ihnen immer entkommen. Und auch hier fühlte er sich nicht mehr so stark unter dem Bann der jungen Inderin stehend wie noch vor einer halben Minute.
Er schüttelte den Kopf.
Mari hatte die Bewegung gesehen und auch verstanden. »Du willst nicht?«, hauchte sie. »Du willst mir tatsächlich entsagen?«
»Ich weiß nicht.«
Suko war hin- und hergerissen. Ein Sturm der Gefühle tobte in seinem Innern. Er wusste tatsächlich nicht mehr, wie er sich verhalten sollte.
Mari verstärkte den Druck. Sie wollte Suko zu sich heranziehen, und sie öffnete bereits den Mund. »Ich werde dich küssen!«, versprach sie. »Ich gebe dir den Todeskuss der Kali.«
Das war genau ein Satz zu viel. Plötzlich riss der Bann, der Suko festgehalten hatte, auseinander. Mit einer glatten Bewegung zog er seine Hände aus der Umklammerung, drehte sich nach links und hörte ihren wütenden Schrei. Suko wollte vom Bett in die Höhe schnellen und zur Tür laufen, um Mari aus der Entfernung zu bekämpfen, denn ihm war klar geworden, dass
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