0411 - Der Steinzeit-Magier
gibt Zielvorstellungen. Alles andere macht Merlins Stern, diese runde Silberscheibe.«
»Das klingt sehr mystisch. Merlin… meinen Sie damit den sagenhaften Zauberer von König Artus’ Tafelrunde, Nicole?«
»Ja.«
»Wenn nicht mein eigenes Erlebnis so unglaubwürdig wäre, würde ich jetzt behaupten: Sie sind beide ein wenig verrückt. Aber so weiß ich nicht mehr, ob das stimmt…«
»Niemand von uns ist verrückt – zumindest nicht mehr als alle die Leute, die sich normal nennen. Es ist alles nicht verrückt, nur anders. Warten wir einfach ab, was Zamorra in Erfahrung bringen kann.«
Sie setzte sich auf die weiße Motorhaube des BMW. Aber sofort sprang sie wieder auf. »Ich hätte doch lange Hosen anziehen sollen«, sagte sie verärgert und zupfte an ihren Shorts. »Verflixt heiß.«
»Man kann sich auch einfach in den Sand setzen«, empfahl die Studentin.
Nicole sah zu Zamorra hinüber und hoffte, daß er etwas – und wenn es noch so verschwommen war – sah…
***
Der Göttersprecher war ins Pfahldorf zurückgegangen. Er bewegte sich vorsichtig. Der Regen ließ den Lehm, mit dem die Baumstämme des Steges und der Plattform verschmiert waren, aufweichen und zu einer glitschigen Fläche werden. Der Göttersprecher mußte aufpassen, daß er nicht ausrutschte, und mehr als einmal war er gezwungen, sich am Geländer festzuhalten, ehe er die Plattform erreichte. Er war ein alter Mann, und der Sturz aus mehr als einer Mannslänge Höhe, hätte ihm sämtliche Glieder gebrochen. Seine alten Knochen waren spröde geworden.
Aber er hatte Erfolg. Er war der beste Göttersprecher dieser Gegend. Und heute war sein Ansehen wiederum gefestigt worden. Auch die umliegenden Dörfer, deren Bewohner ebenfalls von dem langanhaltenden Regen profitierten, würden zugeben müssen, daß sie die Rettung ihrer Felder allein ihm, dem Göttersprecher dieser Siedlung, zu verdanken hatten.
Es regnete immer noch, schon über eine Stunde, und noch war kein Ende abzusehen. Das Land und der See dampften, weil die Hitze dabei nicht gewichen war und eine Menge Regenwasser bereits wieder verdunstete, ehe es in den hartgetrockneten Boden eindringen konnte. Aber die Fortdauer des Regens weichte den Boden allmählich auf.
Der Göttersprecher lächelte. Er erreichte das kleine Häuschen, das er allein bewohnte. Alle anderen Bauten waren Gemeinschaftshäuser der großen Familien. Bis zu drei Handvoll Menschen konnte in einem Haus Unterkunft finden. Nicht weit von dem Häuschen des Göttersprechers entfernt stand der Schmelzofen. Dort wurden die Werkzeuge aus Bronze gegossen. Der Göttersprecher überlegte, ob er dem Bronzegießer und seinen Gehilfen sofort sagen sollte, daß sie sich an die Arbeit machen sollten, einen neuen Ritualdolch zu gießen, oder ob er damit warten sollte, bis der Regen vorbei war. Solange das Wasser vom Himmel fiel, solange der Regengott vor Freude über das Opfer weinte, konnte der Bronzegießer ohnehin nicht mit seiner Arbeit anfangen.
Dieser Zauberer…
Wahrscheinlich waren sie alle im Dorf froh, daß ihnen der Zauberer als Opfer gesandt worden war. Sie brauchten niemand aus ihrer Mitte zu bestimmen, sie brauchten kein Nachbardorf zu überfallen, um jemanden für das Opfer gefangenzunehmen – was darüber hinaus nur Ärger geben würde. Es reichte schon, daß sie seit mehr als zwei Handvoll Sommern mit drei benachbarten Dörfern in Fehde lagen; wo immer sie sich begegneten, ob in größerer Gesellschaft oder einzelne Jäger, kam es zu Kämpfen. Es gefiel dem Göttersprecher nicht so recht, aber sein Einfluß auf den Stammesführer war trotz seines hohen Ansehens nicht stark genug, um ihn zum Frieden zu bewegen. Bei den anderen Stammesführern sah es ähnlich aus.
Manch einer mochte sich wundern, weshalb der Zauberer aus dem Land Zukunft – oder war es kein Land? – seine dämonische Kunst nicht angewandt hatte, um sich zu befreien. Aber vielleicht war er nur ein schwacher Zauberer gewesen, der nicht viel beherrschte. Und immerhin hatte der Göttersprecher einen Bann über ihn gesagt, während der Zauberer noch ohne Besinnung war. Vielleicht hatte auch das geholfen.
Gern hätte er den Zauberer vor der Opferung noch befragt. Er hätte gern gewußt, woher er kam, und noch lieber, wohin er Akajle mit seinem Zauber geschickt hatte. Doch es war nicht genug Zeit dafür vorhanden gewesen. Der Stammesführer hatte auf das Ritual gedrängt. Von seiner Warte aus hatte er natürlich recht. Jeder Halbtag, den sie noch
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