0412 - Ein Grab aus der Vergangenheit
hätte ich mich wie ein Mensch fühlen müssen, der eine lange Reise hinter sich hat und endlich am Ziel seiner Wünsche angelangt war. So fühlte ich mich aber nicht. Im Gegenteil, etwas wühlte mich innerlich auf. Ich konnte es nicht genau sagen, aber ich rechnete damit, noch böse Überraschungen zu erleben. Es war einfach der Gedanke daran, dass ich diesen Hector de Valois zu wenig kannte. Er war einer der mächtigsten Templer gewesen, okay, aber was er alles gekonnt hatte, wusste ich nicht.
Die flüsternde Stimme des Abbés hörte ich dicht neben meinem rechten Ohr. »Dieser Mann muss das Kreuz sehr geliebt haben, sonst hätte er es sich nicht auf seinen Sargdeckel einmeißeln lassen.«
Ich hob die Schultern. »Tut mir Leid, aber ich weiß nicht, ob er so gläubig gewesen ist.«
Der Abbé war erstaunt. »Du zweifelst an der gerechten Sache der Templer?«
Mich wunderte sein vertrauter Tonfall, ich sagte aber nichts. »Ja, daran zweifle ich.«
Abbé Bloch lachte leise. »Weshalb bist du dann mit mir gegangen?«
Jetzt brachte er mich durcheinander. »Das verstehe ich nicht. Warum sollte ich nicht mit dir gehen?«
»Weil ich ein Templer bin!«
***
Wäre ich besser in Form gewesen, hätte ich mit der Faust auf die Grabplatte geschlagen. So aber saß ich ganz still da, dachte über die Worte nach und fragte schließlich mit leiser Stimme: »Stimmt das?«
»Ja, ich lüge nicht.«
»Wieso? Was sagt die Kirche dazu?«
»Nichts. Sie weiß es nicht. Es gibt nicht nur mich, John Sinclair, auch andere Ordensleute haben sich zusammengefunden und wollen die alten Zeiten wieder aufleben lassen. Die Templer waren nicht schlecht, sie sind nur schlecht gemacht worden, und das bis in die heutige Zeit. Ich wusste, dass du kommen würdest, ich habe dich praktisch erwartet, denn unsere Verbindungen sind gut. Ich kenne auch dein Kreuz. Wir haben dich lange beobachtet, ohne dass du etwas davon gewusst hast. Aber wir sind da. Du bist uns bisher nicht in die Quere gekommen, jetzt aber müssen wir aufpassen, dass du nicht zu viel zerstörst, denn auch wir sind noch auf der Suche nach den alten Lehren.«
Ich atmete laut auf. »Rede nicht mehr weiter, sonst platztmir noch der Schädel. Aber ich frage mich, wie du zu mir stehst. Bist du jetzt mein Freund oder mein Feind?«
»Ich bin neutral.«
»Und lässt mich die Arbeit machen.«
»Vielleicht.«
Da musste ich lachen. »Toll, auf der einen Seite die Wölfe, auf der anderen du.«
»Moment, John Sinclair«, sagte er wieder leise und jeden Konsonanten dabei betonend. »Du vergisst eines: Die Werwölfe sind auch meine Feinde. Sie und ich haben nichts miteinander zu tun, aber sie wollen ebenfalls an das Grab heran.«
»Was ist der Grund?«
»Sie müssen alles Weißmagische ausmerzen, das sich in ihrem Bereich befindet. Ich bin sicher, dass sie kommen werden. Bis dahin sollten wir das Grab geöffnet haben.«
Dem war ich nicht abgeneigt, aber ich wollte noch etwas wissen.
»Wenn du so viel weißt und selbst zu den Templern zählst, dann sag mir, was sich hier unter der Platte«, ich klopfte auf sie, »befindet.«
»Das ist eben unser Problem«, erklärte er, »ich weiß es nicht. Wir neuen Templer müssen vieles aus entlegenen Teilen Europas und des Orients zusammentragen. Wir stehen erst am Beginn des Aufbaus. Der Orden muss mächtig werden, aber das kostet Zeit. Vielleicht ist mit dem Fund dieser Grabstätte der Beginn gemacht worden.« Er legte eine kurze Pause ein und kam wieder auf das alte Thema zu sprechen. »Gut und Böse vertragen sich nicht miteinander. Wir brauchen freie Bahn.«
Ich nickte, bevor ich eine Antwort gab. »Du hast eine gewaltige Aufgabe übernommen. Wirst du alles schaffen?«
»Keine Sorge, es ist für vieles.« Er verstummte plötzlich und stand auf.
Auch ich erhob mich. Dabei fiel mein Blick noch einmal auf das Kreuz. Täuschte ich mich, oder verbreitete es tatsächlich einen schwachen Silberglanz? Am Mondlicht konnte es nicht liegen, das hatte einen anderen Farbton.
Der Abbé war einige Schritte zur Seite gegangen und stehen geblieben. Er schüttelte den Kopf. »Etwas stimmt hier nicht«, sagte er.
»Ich habe das Gefühl, als würden wir belauert.«
»Die Wölfe?«
»So muss es sein.« Er duckte sich leicht. »Tun Sie mir einen Gefallen. Löschen Sie das Licht!«
Ich schaltete die Lampe aus. Gebracht hatte die Leuchtkraft nicht viel. Jetzt aber wurde es wieder stockfinster. Meine Augen mussten sich allmählich daran gewöhnen, und ich
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