0412 - Ein Grab aus der Vergangenheit
konzentrierte mich auch nicht auf eine bestimmte Stelle, sondern ließ den Blick kreisen.
Da sah ich die gelben Augen. Die gelben Augen der Werwölfe.
***
Also hatten sie es doch geschafft, klammheimlich die Insel zu betreten. Obwohl ich meine Waffen bei mir trug, spürte ich ein dumpfes Gefühl in der Magengrube. Eine Faust schien sich dort hineingewühlt zu haben, und ich atmete zunächst nur durch die Nase.
Hatte auch der Abbé sie gesehen?
Falls er nicht blind war, musste er das, und er sprach mich auch darauf an.
»Jetzt wird es sich zeigen, wer stärker ist!« hauchte er und hob einen Arm. »Wollt ihr nicht kommen?« rief er laut in die Finsternis hinein. »Wir haben euch längst gesehen.«
Genau diese Sätze waren das Zeichen. Die Zweige des Buschwerks bewegten sich. Auch hinter den alten Mauern der Schlossruine tauchten sie auf, und eine Person blieb genau dort stehen, wo sich der Bogen befand.
Es war Manon Medoque!
In all ihrer Scheußlichkeit präsentierte sich dieses Weib, das zur Bestie degeneriert war. Sie trug einen langen, dunklen Umhang, aus dem praktisch nur der Werwolfschädel mit dem kurzen, fellbewachsenen Hals ragte. Verlassen konnte sie sich auf ihre elf Diener, die uns umstellt hatten.
Zwei gegen zwölf!
Wie das endete, konnte ich mir ausrechnen.
Manon Medoque hatte nur Augen für mich. Ich spürte den Blick, wie er auf meiner Haut brannte. Und ich fühlte mich plötzlich unwohl. Wahrscheinlich war sie von meiner Anwesenheit überrascht worden, und das wurde mir gleich darauf bestätigt.
»Du bist hier?« sprach sie mich mit ihrer kratzigen Stimme an.
»Wie du siehst.«
»Und die beiden anderen?«
»Deinen Fanfarenbläser habe ich leider vernichten müssen. Er war mir ein wenig zu gierig. Doch Jean lebt. Nur wird es ihm schwer fallen, den Tisch zu bewegen, an den ich ihn gekettet habe. Manchmal läuft eben nicht alles glatt.«
»Das habe ich bemerkt, aber jetzt wird uns niemand mehr aufhalten. Auch ihr nicht.« Sie löste sich vom Fleck und hob beide Arme.
Es war das Zeichen für die übrigen Wölfe, ihre Verstecke zu verlassen.
Sie kamen nicht sehr schnell, eher vorsichtig und abwartend, als würden sie dem Frieden nicht so recht trauen.
Der Abbé stand neben mir. Als ich ihn ansah, entdeckte ich in seinen Augen keinerlei Resignation. Allein der Wille, nicht aufzugeben und dem Kampf nicht auszuweichen, war vorhanden.
Die Bestien bewegten sich geschmeidig. Im Buschwerk fanden sie Lücken, durch die sie glitten, und ihre Herrin, Manon Medoque, genoss es, von diesem Schutz umgeben zu sein. Leider war es zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können. Ein Feuer hätte gut getan.
Die Werwölfin bewegte sich in meine Richtung. Ich überlegte, ob ich ihr ausweichen sollte, als mich der Abbé anstieß. »Wir dürfen keine Angst zeigen!« flüsterte er. »Die wollen etwas anderes als uns. Wenigstens zuvor, aber sie werden sich wundern.«
»Du weißt mehr!«
»Nein, John, kaum.«
Über die Rolle des Abbés würde ich noch nachdenken müssen.
Abbé Bloch – welch eine Rolle hatte er in diesem magischen Puzzle?
Manon blieb stehen. Wir musterten uns gegenseitig. Ich sah ihre veränderten Augen, die mich so kalt und grausam anstarrten. Das Gesicht war mit einem dichten Fell bewachsen, dennoch schimmerte an einigen Stellen die hellere Haut durch.
Konnte es sein, dass Manon noch nicht ihre gesamte Menschlichkeit verloren hatte?
Ich sah mir ihre Hände an. Sie waren zu Pranken geworden. Die Nägel wiesen jetzt die dreifache Länge auf. Zur Spitze hin waren sie gebogen. Sie konnten schlimme Wunden schlagen.
Noch hatte ich mich nicht bewegt. Wahrscheinlich wusste Manon nicht, dass ich inzwischen meine Beretta wieder bei mir trug. Ich würde den Teufel tun und mich zuvor verraten, sie war jetzt am Zug, und sie enttäuschte mich nicht.
Dass ihr das Sprechen Mühe bereitete, war zu sehen. Sie öffnete ihr Maul, rang nach Formulierungen und hatte eine merkwürdige Aussprache. Zudem roch ich sie. Der typische Gestank eines Werwolfs ging von ihrem Fell aus.
»Du hast die Insel gefunden, aber es wird dir nichts mehr nützen, weil wir diejenigen sein werden, die das Kommando übernehmen. Uns gehört die Welt. Der alte Familienfluch hat sich erfüllt. Mir obliegt es, die Wölfe zu führen, und ich werde auch das Grab öffnen, das ihr für uns gefunden habt.«
»Warum willst du das tun?« fragte ich sie. »Weshalb lässt du das Grab nicht in Ruhe?«
»Weil nicht zwei Magien nebeneinander
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