0418 - Die Waldhexe
solange man den Umrechnungsfaktor kannte und die Zahlen nicht allzu krumm wurden.
Hundertsechzig Kilometer waren in dieser wilden Landschaft natürlich nicht viel. Zamorra überlegte, ob es nicht sinnvoller war, schon jetzt zum Auftanken nach Pôrto Velho zurückzukehren, um dann mit gefüllten Tanks einen wiederum größeren Aktionsradius zu haben.
Er wollte gerade diesen Vorschlag machen, als ihn die Landschaft in ihren Bann zog. Abrupt wechselte sie. Von der Grünen Hölle war kaum noch etwas zu sehen. Gerodete und verbrannte Flächen, Häuser, Straßennetze… und über allem der graue Schleier der Verwüstung. Trotz kleiner Gärten um die Häuser ein Hauch von Trostlosigkeit und Verlorenheit…
Hinter ihnen lag der Regenwald mit einem wuchernden, blühenden Leben, in dem es so gut wie keine Menschen gab. Vor ihnen lag ein Stück Halbzivilisation voller Menschen. Aber Zamorra sah, daß das Land tot war.
Das Bedrückende dieser Stimmung schlug auch auf ihn nieder.
Aber immer noch fand er keinen Kontakt zu Nicole, und plötzlich glaubte er, hier falsch zu sein. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie als Vampirin, die gegen ihren Drang ankämpfte, in die Nähe von menschlichen Ansiedlungen geflohen war.
Etwas mußte ihn fehlgeleitet haben.
»Wir kehren um«, sagte er.
***
Julio Lopez runzelte die Stirn, als er Valdez kommen sah. Der Mann hastete über die Straße, scheuchte dabei Katzen und Hühner zur Seite und erreichte das kleine Holzhaus, in dem Lopez mit seiner Familie wohnte und zugleich die Polizeistation unterhielt. Auf dem Dach signalisierte eine große Funkantenne, daß hier eine Behörde residierte, das war aber auch schon alles. Ein Hinweisschild gab es nicht. Im Dorf wußte jeder, wo der Polizist zu finden war, und Fremde konnten ja schließlich fragen, sofern sie nicht von der Antenne auf ein Funkgerät und damit auf eine offizielle Einrichtung schlossen.
Den Postdienst machte Lopez auch gleich mit.
Lopez war ein Frühaufsteher. Momentan war er allein im Haus. Seine Frau war mit den drei Kindern zur Stadt gefahren wie jeden Tag, brachte sie zur Schule, um sie am späten Nachmittag wieder abzuholen. Vierzig Kilometer war die Stadt entfernt. Aber die Kinder sollten etwas lernen können. Lopez war einer der ganz wenigen, die genug Geld verdienten, um seinen Kindern die Schule zu ermöglichen. Das aber auch nur, weil er für Polizei- und Postdienst zugleich besoldet wurde. Ansonsten hätte das Geld nicht gereicht. Reich wurde er durch seinen Doppelberuf nicht. Durch die Fahrten zur Schule wurde das Geld mehr als aufgezehrt. Aber es brachte auch nichts, die Kinder in ein Internat zu schicken. Das war noch teurer. Und mit der ganzen Familie in die Stadt zu ziehen, bei den hohen Mietpreisen? Nein. Hier draußen war er wenigstens sein eigener Herr. Auf den Reichtum und auf Luxus konnte er verzichten. Vielleicht würden seine Kinder, wenn sie ihre von Lopez und seiner Frau erträumte Ausbildung hinter sich hatten und gut verdienten, ihnen im Alter ein wenig Komfort bieten können.
Aber bis dahin war es noch ein langer, harter Weg.
Valdez hatte seinen wesentlich kürzeren Weg von der Bodega bis zu Lopez’ Haus hinter sich gebracht. Der Mann sah aus wie der lebende Tod, dachte Lopez unwillkürlich. Na ja, wer sich so sinnlos betrank, daß er am Rande einer Alkoholvergiftung schwebte, konnte einfach nicht anders aussehen…
Valdez war in seinen Augen ein Narr.
Daß der sich nach seinem Besäufnis überhaupt noch daran erinnerte, daß Lopez sich mit ihm über das rätselhafte Sterben zweier Männer am vergangenen Tag unterhalten wollte, erstaunte den Polizisten.
Er zog sich die Uniformjacke über, um etwas respektheischender auszusehen, strich sich über den Schnurrbart und öffnete die Tür.
Valdez hob grüßend die Hand.
»Kommen Sie«, forderte er. »Ich zeige Ihnen die Hexe, die mir gestern den Brief geschickt hat. Sie ist hier, im Dorf.«
Lopez legte die Stirn in Falten. »Wovon reden Sie…«
Da fiel ihm die Geschichte wieder ein. Dieser Brief, der nicht zu finden gewesen war…
»Sie sind verrückt«, sagte Lopez. Sicher, die Leute redeten über eine Hexe, die in den Wäldern lebte. Silvana wurde sie genannt. Aber Lopez hielt sie für ein Hirngespinst. Er hatte Silvana nie gesehen und auch nie sonst etwas von ihr bemerkt. Er glaubte nicht an ihre Existenz. Er war eher davon überzeugt, daß jemand sich einen üblen, lange Zeit anhaltenden Scherz erlaubte. Ein bestimmtes Waldstück
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