043 - Der Mann von Marokko
frischer Tat ertappt, als er in ein Haus in Blackheath einbrach.«
Sie sprang auf.
»Das ist doch nicht wahr!« rief sie erregt. »Mr. Morlake ... o nein, das ist nicht wahr!«
»Es ist einwandfrei erwiesen«, erklärte Hamon. »Er wurde verhaftet, als er in das Haus eines Mannes einbrach, der eine Juwelensammlung besitzt. Glücklicherweise folgten ihm zwei Polizeibeamte, die ihn schon seit einiger Zeit beobachteten, und nahmen ihn fest, als er eben fliehen wollte. Colonel Paterson störte ihn nämlich bei der Arbeit.«
Lord Creith nahm seine Brille ab und schaute ihn erstaunt an.
»Sie meinen James Morlake, unseren Nachbarn?« fragte er ungläubig.
Hamon nickte: »Ich meine ›den Schwarzen‹, den geschicktesten Einbrecher seit Jahren.«
Joan war in ihren Sessel zurückgesunken, das Zimmer schien sich um sie zu drehen. Hamon sprach die Wahrheit. Seine Heiterkeit war der beste Beweis dafür,»Meine Schwester wird sich übrigens die Ehre geben, Sie zu besuchen, Lady Joan«, wandte er sich höflich an sie.
»So?« fragte sie abwesend. »Ach ja, Sie haben eine Schwester in Paris. Es tut mir leid, daß ich heute nachmittag nicht zu Hause bin.«
»Das dachte ich mir und sagte ihr deshalb, daß sie morgen kommen solle. Sie wird Ihnen gefallen, sie ist ein gutes Mädchen, obwohl ich sie ein wenig verzogen habe.«
»Wann wird Mr. Morlake verhört?« fragte sie, ohne weiter auf Lydia Hamon einzugehen.
»Heute früh beginnt die Voruntersuchung, dann kommt er wieder in Untersuchungshaft, und nächste Woche wird er vor Gericht gestellt. Sie interessieren sich wohl für ihn? Nun, das ist ja natürlich. Solche Menschen haben etwas Romantisches an sich.«
»Hat er Freunde? Ich meine, jemand, der sich für ihn verbürgt?«
»In seinem Falle gibt es keine Bürgschaft. Die Polizei wird sich hüten, ihn gegen Kaution freizulassen, zumal seine Verhaftung nur nach einem harten Kampf möglich war.«
»Wurde er verletzt?« fragte sie schnell.
»Er hat einen oder zwei Schläge abbekommen«, erwiderte Hamon mit einem sorglosen Achselzucken.
Ihre Augen ließen ihn nicht los.
»Sie wissen sehr viel darüber. Man hat Sie vermutlich angerufen und Ihnen alles erzählt?«
»Ich weiß nur, was in den Zeitungen steht«, erwiderte Hamon schnell.
»Es steht nichts in den Zeitungen - es passierte wohl zu spät in der Nacht, um noch in die Morgenpresse zu kommen.«
Sie erhob sich und ging ohne ein Wort aus dem Zimmer.
15
Joan war am Vormittag Miss Lydia Hamon mit größtem Erfolg aus dem Weg gegangen und hoffte, daß ihr unentschuldbar beleidigendes Benehmen die junge Dame veranlassen werde, nicht wiederzukommen. Zu jeder anderen Zeit wäre sie sehr neugierig gewesen, die Schwester Ralphs zu sehen, aber heute hatte sie nur einen Gedanken, der sie in Anspruch nahm.
Zwei Stunden vor dem Abendessen legte sich Lord Creith nieder und hielt eine Siesta, wie er es nannte. Joan erledigte um diese Zeit ihre Korrespondenz, aber heute war sie nicht dazu aufgelegt. Noch weniger war sie in der Stimmung, Besuche zu empfangen, und als Stephens erschien, um ihr Miss Hamon zu melden, seufzte sie verzweifelt auf.
»Bitten Sie die Dame herauf«, sagte sie schließlich und nahm sich vor, höflich zu sein.
Sie war doch etwas erstaunt, als sie Lydia sah, die viele Vorzüge hatte und sich geschmackvoll zu kleiden verstand. Es war kaum zu glauben, daß dieses zarte, geschmeidige Mädchen mit dem häßlichen Mr. Hamon verwandt sein sollte.
»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie gestört habe.« Lydia warf einen Blick auf den Schreibtisch, auf dem Joan in aller Eile Schreibpapier und Briefumschläge ausgelegt hatte, um die Unterredung möglichst bald abbrechen zu können. »Ich habe schon heute morgen versucht, Sie zu treffen. Ralph sagte, daß Sie mich am Vormittag erwarten würden, aber Sie waren leider schon ausgegangen.«
Joan murmelte ein paar Entschuldigungsworte und war gespannt, welche dringende Veranlassung Lydia noch einmal zu ihr geführt hatte.
»Ich bin nur ein paar Tage in London, und ich mußte Sie sprechen«, sagte Lydia, als ob sie Joans Gedanken erraten hätte. »Ich lebe sonst in Paris - kennen Sie Paris?«
»Nur oberflächlich. Ich liebe es nicht sehr.«
»Wirklich?« Lydia zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich kann die Leute, die Paris nicht gern haben, eigentlich kaum verstehen. Es ist doch herrlich dort für Menschen, die Geschmack haben.«
»Dann muß ich eben einen sehr schlechten Geschmack haben«, meinte Joan
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