0431 - Kathedrale der Angst
Fehler.«
»Und Sie auch, wenn Sie hier sitzenbleiben. Ich bin zweiundsiebzig Jahre alt geworden, aber ich stemme heute noch Weinfässer, und Sie, Abbé, schaffe ich auch.«
»Wovor haben Sie Angst?«
»Ich habe keine Angst.«
»Doch, das ist zu spüren. In Ihnen lauert seit fünfzig Jahren eine fürchterliche Angst. Sie müssen unter einem gewaltigen Druck leben, der nicht gut ist.«
»Und das wollen Sie wissen?«
»Ja.«
»Woher denn?«
»Monsieur Virni, ich bin nicht unvorbereitet zu Ihnen gekommen, glauben Sie mir. Meine Freunde und ich verfolgen einen bestimmten Plan, der sehr positiv ist. Wenn Sie sich mir öffnen oder sich mir anvertrauen, kann ich Ihnen mehr darüber sagen, und Sie werden mich gut verstehen. Zeigen Sie sich allerdings verstockt, kann ich Ihnen nicht viel helfen, das wissen Sie bestimmt.«
»Gehen Sie!«
»Nein!«
Bisher hatte sich der Wirt zurückgehalten. Bei so viel Verstocktheit jedoch konnte er nicht mehr anders. Da brach sich sein Temperament freie Bahn.
Er wuchtete sich auf den Abbé zu, packte ihn an den beiden Kragenenden und zog ihn hoch. Er wollte ihn umdrehen und zur Tür schleudern, aber der Abbé schaute ihn nur an.
Sein Blick traf den des Wirts.
Und plötzlich spürte Virni, daß in seinem Innern etwas erschlaffte. Er sah nur die Augen des Abbés und spürte dabei, wie sein Widerstand zusammenbrach.
Dieser Gast war etwas Besonderes. Er konnte über andere Menschen bestimmen und ihnen seinen Willen aufzwingen.
So geschah es auch bei Pierre Virni. Er wollte es eigentlich nicht, aber seine Hände lösten sich vom Revers der DIE schmalen Jacke. Hilflos wirkend hob er die Schultern und drehte sich um.
»Aber setzen Sie sich doch wieder«, sagte der Abbé sehr freundlich.
»Wir wollen unser Gespräch fortsetzen.«
Virni holte tief Luft. Er wollte Platz nehmen, als er Schritte hörte und seine Tochter erschien.
»Ist etwas, Vater?«
»Nein, Colette, alles in Ordnung.«
Die junge Frau drehte sich um und verschwand wieder. Ihr Vater rückte den Stuhl zurecht. Den Wein trank er aber noch im Stehen. Zweimal schluckte er.
Abbé Bloch lächelte ihn an. »Manchmal entwickeln sich die Dinge eben nicht so gradlinig.«
»Das kann man wohl sagen. Sie sind mir überlegen, Abbé, das gebe ich zu. Aber ich möchte wissen, woher Sie so viel über mich erfahren haben.«
»In Paris.«
Virnis Augen wurden erst groß, dann verengten sie sich, und er starrte auf die blankgescheuerte Platte des schweren ovalen Holztisches.
»Paris? Wieso? Da war ich seit langer Zeit nicht mehr.«
»Ja, es liegt fünfzig Jahre zurück.«
Der Wirt hob den Blick. »Sie kennen sich sehr gut aus, Abbé.«
»Das muß ich auch«, erwiderte Bloch mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Ich wußte ja, daß es hier in der Gegend um Alet-les-Bains einige Geheimnisse gibt, denen wir auf den Grund gehen wollten. Also forschte ich im Archiv der Uni nach. Es war nicht sehr ergiebig. Wenn es Unterlagen geben sollte, müssen die woanders liegen. Aber ich fand Ihren Namen, Monsieur, und eine Abschrift oder das Original des Briefes, den Sie an Ihren Professor geschrieben haben, als Sie noch studierten und praktische Erfahrungen sammeln wollten. Ich forschte weiter und stellte zu meiner Überraschung fest, daß Sie hier seit dieser Zeit leben und heimisch geworden sind.«
»Ja, ich wollte nicht mehr zurück.«
Der Abbé nickte. »War es so schlimm?«
»Man hätte mich mit Fragen gelöchert.«
»Auch den anderen, nicht?«
Virni zog die Stirn kraus. »Von wem reden Sie, Abbé?«
»Haben Sie den Namen Ihres Freundes tatsächlich schon vergessen? Gustave Rodin?«
Pierre holte schwer Luft. »Nein, den habe ich nicht vergessen. Wie könnte ich das?«
»Lebt er nicht mehr?«
»Das ist richtig.«
»Wann starb er?«
»Das wissen Sie doch!«
»Nein, Monsieur, sonst hätte ich Sie nicht gefragt. Aber dieser Gustave Rodin könnte eine Schlüsselposition in dem Fall einnehmen. Darum sollten Sie sich erinnern.«
»Ich sah ihn sterben.«
»Hier in der Nähe?«
»Ja, er ging in die Kathedrale der Angst. Er ignorierte die Warnung, ich konnte ihn auch nicht mehr zurückhalten…« Der Wirt hatte den Kopf schräg gelegt. Er blickte gegen die Decke.
Die Erinnerung an das Vergangene wühlte ihn auf. Er öffnete und schloß seine Hände. Schweiß lag auf seinem Gesicht. Seine Stimme glich, als er von den Ereignissen berichtete, manchmal nur einem Krächzen. Auf irgendeine Art und Weise fühlte er sich auch
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