0442 - Der Blick ins Jenseits
mich auf die Formel. In mir steckte eine plötzliche Gewißheit, daß es zu schaffen war.
Ja, es würde mir gelingen, diese verfluchte Fessel abzustreifen und selbst zu handeln..
Noch einmal sah ich das Kreuz an. Es hatte schon viele wichtige Momente in meinem Leben gegeben, wo eine Aktivierung unerläßlich gewesen war. Dieser Augenblick gehörte ebenfalls dazu.
Und so sprach ich die Formel in einer Stätte, wo sich die Schwarze und die Weiße Magie trafen, wo Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderstießen und das Erbe eines unseligen Teufelskultes noch unterschwellig vorhanden war.
»Terra pestem teneto - Salus hie maneto!«
***
In meine andächtig gesprochenen Worte hinein peitschte der unheimlich klingende Donnerschlag. Ein hämmerndes Geräusch, als wollte es die gesamte Umgebung zum Einsturz bringen und dabei auch noch Welten zerreißen. Der Donner hallte in meinem Trommelfell, gleichzeitig schössen mehrere Blitze auf einmal aus den düsteren Wolken über der Komturei. Ihr fahles Licht irrlichterte durch das Innere des Saals, es vertrieb den silbergrauen Glanz, tanzte von einer Wand bis zur anderen, zog knisternde Spuren, schleuderte einen fahlen Funkenregen in die Höhe, der auch über das liegende Mädchen hinweglief und von einem fast detonierenden Kreuz aufgefangen wurde.
Das war nur der erste Teil der Reaktion.
Sehr schnell folgte der zweite. Und er hatte nichts mehr mit der eigentlichen Natur zu tun, denn was ich nun erlebte, war die reine Magie. Durch meinen Thron lief ein gewaltiges Zittern. Ich glaubte angehoben zu werden, obwohl ich mich nicht von der Stelle bewegte.
Die Wände und der Boden bewegten sich ebenfalls. Sie rasten aufeinander zu und gleichzeitig voneinander weg.
Hier fand eine Dimensionsverschiebung statt, die ich bei vollem Bewußtsein miterlebte.
Ich hatte die gesamte Zeit über seit meinem Erwachen auf eine breite Wand schauen können.
Die war auch jetzt noch vorhanden, nur hatte sie sich verändert. Sie war pechschwarz, und die anderen, sich in Bewegung befindlichen Wände liefen ihr entgegen.
Ohne zu stoppen, tauchten sie hinein, ebenso wie der Boden, und es sah aus, als sollte diese Bewegung kein Ende haben.
Das stimmte nicht.
Plötzlich war alles anders.
Still, ruhig bewegungslos. Nur die Wand zitterte noch leicht in sich selbst.
Und ich stand auf.
Ja, ich erhob mich kurzerhand von meinem Thron, ohne daß mich irgend jemand oder irgendein Ereignis daran gehindert hätte. In den Kniekehlen zitterte ich noch, das war nicht ein Gefühl der Angst oder Beklemmung, es kam einfach vom langen Sitzen, denn meine Beine waren irgendwie steif geworden.
Beim dritten Schritt klappte es besser, so daß ich mich endlich wieder auf die Umgebung konzentrieren und meinen eigenen Zustand vergessen konnte.
Die vier Hyänen waren verschwunden. Sie mußten ein Opfer dieser Zeitverschiebung geworden sein, möglicherweise waren sie auch im Mahlstrom zwischen Gut und Böse zerrieben worden.
Nicht aber Arlette!
Sie lag seitlich und gekrümmt vor meinen Füßen, Beine und Arme noch immer angewinkelt, den Kopf auf einen Arm gelegt, und sie starrte schräg ah mir vorbei gegen die Decke.
Leben entdeckte ich nicht in ihrem Blick, aber sie konnte nicht tot sein, sie stand unter dem Schutz des Kreuzes, das ich ihr abnehmen wollte.
Dazu mußte ich ihren Kopf anheben, um die Kette über die Haarflut streifen zu können.
Mit einer Handfläche stützte ich ihren Hinterkopf ab. Dabei streifte mein Blick ihr Gesicht, und ich bemerkte, wie die Augendeckel flatterten.
Als ich mein Kreuz in der Hand hielt, öffnete Arlette die Augen und erschrak, als sie sah, wer da neben ihr kniete.
Ich schüttelte den Kopf. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde mich nicht revanchieren.«
»Wofür?« fragte sie und richtete sich auf, wobei ich sie in Ruhe ließ.
»Weißt du das nicht?«
Auf dem Steinboden blieb sie sitzen, sahsich um, hob beide Hände und strich durch ihr Haar. Ihr Gesicht nahm einen ungläubigen Ausdruck an, zudem bewegte sie ihren Mund und fragte mit kaum zu verstehender Stimme: »Können Sie mir sagen, wo wir uns hier befinden?«
»In der alten Komturei.«
»Nein!« Sie rief es heftig und drehte den Kopf.
»Doch, Arlette!«
Tief atmete sie durch. »Aber… das ist nicht möglich. Wie komme ich hierher?« Plötzlich sprang sie geschmeidig hoch und starrte mich funkelnd an. »Sie, Sinclair. Ja, Sie haben mich entführt. Sie müssen mich betäubt haben und…«
»Langsam,
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