0449 - Der Tod im Mädchen-Pensionat
roten Vorhang verdeckt, der von der Decke herabhing und bis auf den Fußboden reichte. Aber die erste Kletterstange war von der Brüstung der Galerie reichlich zwei Yard entfernt.
»Ein bißchen riskant, finden Sie nicht?« fragte ich. »Sie müßten von der Brüstung durch die Luft springen und sicher an einer ziemlich glatten Stange landen. Wenn der Mörder kein gut trainierter Mann war, kann er das kaum geschafft haben.«
»Oh, doch«, widersprach sie. »Ganz einfach.«
Sie ging auf einen großen Karabinerhaken zu, in dem zwei Seile eingewickelt waren.
»Stop!« warnte ich sie schnell. »Nichts verändern. Sagen Sie mir, was Sie Vorhaben!«
»Die Ringe da oben ein Stück herablassen, dann kann man sie von der Brüstung aus packen und sich an ihnen hinüber zur Stange schwingen.«
Ich besah mir die dicht an der Decke hängenden Ringe und schüttelte abermals den Kopf.
»Wenn der Mörder das getan hätte, wie hat er die Ringe dann wieder da oben hinbekommen?«
»Ach ja«, gab sie enttäuscht zu. »Daran habe ich nicht gedacht.«
»Aber irgendwie muß er doch hinuntergekommen sein, zum Teufel«, sagte ich. »Dies ist eine gewöhnliche Turnhalle, keine Räuberhöhle aus einem englischen Gruselfilm. Hier gibt es keine Geheimtüren, und keine verborgenen Gänge in den Wänden. Hier gibt es nichts als eine Treppe und zwei Feuerleitern…«
Ich nahm den Kipphebel des Fensters in die Hand und zog ihn hoch. Die untere Hälfte des Fensters schwang nach außen. Wenn man sich ein bißchen vorbeugte, konnte man die Holme der Feuerleiter sehen. Ich kletterte hinaus und versuchte, das Fenster von außen zu schließen. Die Mechanik spielte nicht mit.
»Das klappt nicht«, sagte Sue. »Es geht nur, wenn jemand von innen am Fensterhebel zieht. Anders geht das Fenster nicht zu.«
Ich kletterte wieder hinein.
»Stimmt. Nur wenn jemand am Hebel zieht — zieht--«
Ich sah sie sprachlos an. Ziehen! Ziehen? Ich lief auf der Galerie herum. Sue Barrington beobachtete mich aufmerksam. Ich suchte zwischen den beiden Stuhlreihen. Ich suchte unter den Stuhlreihen. Sue kam hinter mir her.
»Was suchen Sie denn bloß?« wollte sie wissen.
»Schnur«, sagte ich. »Ein Stück Schnur, Bindfaden, Seil, Tau, Kordel — was Sie wollen.«
Sue zeigte auf das vordere Ende der Galerie. Zwei leere Kartons standen dort. Ihre Aufschriften verrieten ihre Herkunft von einer Fabrik für Girlanden und Papierschmuck. Ich sah hinein.
»Da ist nichts drin, Sue. Die Detektive der Mordkommission haben die Galerie Zoll für Zoll abgesucht.«
»Aber es muß eine Rolle rote Schnur drin sein«, behauptete Sue fest. »Ich habe mit Tina Hickson die Girlanden aufgehängt, und wir ließen die Schnur, die wir nicht brauchten, in einem der Kartons zurück.«
»Trotzdem ist nichts da. Und das freut mich. Das freut mich ungemein. Kann man sich irgendwo in der Nähe eine Rolle Bindfaden besorgen?«
»Wir müssen die anderen Mädchen vom Festausschuß fragen. Irgendwo ist bestimmt —«
»Nein, nicht im College. Ich'will den Mörder nicht darauf aufmerksam machen, daß wir wahrscheinlich seinen Trick durchschaut haben. Gibt es kein Geschäft in der Nähe?«
»Doch, das Geschäft, wo wir die Girlanden gekauft haben. Ein kleines Stück die Straße hinauf.«
Wir hasteten die Treppe hinab, quer durch die Halle und hinaus auf die sonnenbeschienenen Wege.
Wenn es mit der Schnur so ging, wie ich es vermutete, war die Lösung geradezu simpel. So einfach, daß es schwierig war, darauf zu kommen. Ich verfolgte in Gedanken den Weg, den der Mörder genommen haben mußte. Ich hätte meine Aufmerksamkeit auf meine Umgebung konzentrieren sollen.
Wir folgten der Zufahrt. Rechts und links lief eine hohe Hecke entlang und trennte das College-Gelände vom Gehsteig der Avenue. Als wir auf die Straße traten, hätte ich den blauen Buick Le Sabre bemerken müssen, der mit laufendem Motor zehn Schritt links von der Einfahrt wartete. Ich sah ihn aber nicht.
Ich sah ihn nicht, weil ich an nichts anderes dachte, als an eine verdammte Rolle Bindfaden. Ich entdeckte den Schlitten buchstäblich erst, als dicht vor uns schon die Bremsen kreischten und die drei Türen außer der des Fahrers aufflogen.
Wer ein paar Jahre lang mit dem FBI-Stern in der Tasche herumläuft, weiß genau, wann es ernst wird. Dies war ernst, blutiger Ernst. Drei gewichtige Männer mit Revolvern in den Händen, die auf einen zustürmen, würde bei uns in den Staaten der naivste Pfadfinder nicht für harmlos
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