045 - Das verschwundene Volk
sie mit ihm in der Nacht geführt hatte, gab ihr die Hoffnung, dass menschliche Einmischung doch etwas zählte.
Ich muss mit Eri sprechen, dachte sie.
Makeje trat neben sie und legte eine Hand auf ihren Arm. »Was hast du damit gemeint, dass wir nicht jetzt das Lager miteinander teilen können?«
Aruulas Gedanken kehrten innerhalb eines Lidschlags in die Gegenwart zurück. »Nun…«, begann sie, »in meinem Stamm… ist es üblich, dass, nun… dass ein Paar erst in der ersten Vollmondnacht nach ihrer Vermählung… das Lager miteinander teilt.«
Die Ausrede klang in ihren eigenen Ohren nicht sonderlich überzeugend, aber Makeje lächelte. »Ein schöner Brauch, den ich gerne ehre«, sagte er. »Dann werden wir also morgen das Lager teilen.«
Aruula schluckte. Morgen?
Laut sagte sie: »Bis dahin werde ich mich reinigen und die heiligen Gebete aufsagen. Erst dann dürfen wir uns wiedersehen.«
Makeje nickte. Seine Finger strichen über ihren Rücken, als sie hektisch die Leiter hinauf kletterte. Oben angekommen atmete sie auf.
Aruula verdrängte den Gedanken an die übernächste Nacht und sah sich nach Eri um. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass die Menschen sie immer noch misstrauisch anstarrten, aber zumindest die offene Feind- seligkeit war aus ihren Blicken verschwunden. Sie wussten anscheinend nicht mehr, was sie von ihr halten sollten.
Auf der Ebene vor dem Dorf gingen die Frauen ihren üblichen Arbeiten nach. Aruula wagte es nicht, eine von ihnen nach Eri zu fragen, sondern ging an ihnen vorbei.
Sie spürte ihre Blicke im Rücken, als sie sich einen Weg zwischen den hoch stehenden Maispflanzen bahnte. Die Ernte stand kurz bevor, deshalb war mehr Frauen als sonst mit der Suche nach Schädlingen beschäftigt.
Aruula fand Eri schließlich an einem der Bewässerungsgräben, wo sie sich ausruhte und die Füße ins Wasser hielt. Einige andere Frauen waren zwischen den Pflanzen zu sehen, bemerkten Aruula jedoch nicht.
»Eri«, flüsterte sie, als sie nahe genug heran gekommen war. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Lass uns nicht hier darüber sprechen. Wir treffen uns nach Sonnenuntergang auf dem Plateau.«
Eri wartete keine Antwort ab, sondern stand auf und verschwand mit schnellen Schritten zwischen dem Mais.
Aruula blieb nachdenklich zurück. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Tochter des Häuptlings genau auf diese Frage gewartet hatte.
Als Makeje Eri sah, war es für einen Rückzug bereits zu spät. Sie kam aus den Feldern, bemerkte ihn im gleichen Moment und änderte ihre Richtung.
Makeje blieb resigniert stehen, zu müde und erschöpft nach der langen Nacht, um der Konfrontation auszuweichen.
»Ich weiß, dass ich dich verletzt habe«, sagte er, als Eri näher gekommen war, und fragte sich gleichzeitig, warum er ein so schlechtes Gewissen bei dem Gedanken hatte. »Das tut mir Leid, aber ich konnte nicht anders handeln.«
Eri sah ihn an. »Der Adler hat zu dir gesprochen. Es wäre falsch, seinem Wunsch nicht nachzukommen.«
Makeje blinzelte. Er hatte mit allem gerechnet, mit einem Wutausbruch, einem Schlag ins Gesicht oder einer langwierigen Auseinandersetzung, nur nicht damit, dass Eri seine Entscheidung akzeptierte. Ein überraschtes »Oh…« war alles, was er hervorbrachte.
Sie griff nach seinem Arm und zog ihn aus der Hörweite zweier Frauen, die so taten, als konzentrierten sie sich voll und ganz auf das Weben einer Decke.
»Makeje«, sagte sie dann, »ich habe gehört, was du heute Morgen gesagt hast. Es steht mir nicht zu, dem Boten des Schwarzen Gottes zu widersprechen. Wenn der Adler verlangt, dass du und die Fremde euer Leben teilt, muss ich das akzeptieren, obwohl es mir Kummer bereitet.« Ihre Hand streifte wie zufällig seine Finger. »Ich werde dich immer lieben, egal was der Adler sagt.«
Makeje trat einen Schritt zurück, unsicher, wie er auf ihr Geständnis reagieren sollte. Er entschied sich, nichts zu sagen.
Sie schweigen sich an. Schließlich senkte Eri den Kopf.
»Ich verstehe«, sagte sie leise. »Hoffentlich kann dir die Fremde so viel Liebe schenken, wie ich es getan hätte.«
Makeje lächelte. »Ich danke dir.«
Er war froh, dass sich das Gespräch in diese Richtung entwickelt hatte und nicht zu einem Streit geworden war. Wenn die anderen Dorfbewohner sahen, dass Eri den Rat des Adlers akzeptierte, gaben sie vielleicht ebenfalls ihre ablehnende Haltung auf.
»Eine Bitte hätte ich jedoch«, unterbrach Eri seine Gedanken, als er sich abwenden
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