0453 - Im Bann des Pegasus
schräg auf uns zu. Zuerst ein Schatten, der immer heller wurde und sich zu einem Pferd hervorkristallisierte, dessen tödliches Horn genau auf das Boot gerichtet war, als wollte es den Kahn durchbohren.
»In Deckung!« schrie ich Shulz zu und lag bereits flach, wobei ich mich noch überrollte und dicht an der Reling zu liegen kam.
Einen Moment später hörte ich das gewaltige Krachen und vernahm Godfreys Schrei!
***
»Gabriela, hörst du mich?«
Die Stimme kam aus dem Dunkel der Nische. Sie hörte sich an wie das geheimnisvolle Flüstern des Windes, der eine Botschaft aus der fernen Welt brachte.
Die junge Griechin blieb stehen. Furcht hatte sie nicht. Man kannte sie hier im Ort, denn sie arbeitete als Serviererin in einer Taverne oberhalb des Hafens, wo eine Terrasse noch zusätzlich auf das Felsplateau gebaut worden war und man draußen sitzen konnte.
Der Betrieb flaute erst spät in der Nacht ab, oder wie heute, erst in der ersten Morgenstunde.
Den Weg zu ihrer Wohnung ging Gabriela stets zu Fuß. Passiert war ihr noch nie etwas. Es gab keine Wegelagerer, die ihr auflauerten, und wenn jemand was von ihr wollte, der konnte, immer zu ihr kommen.
Sehr schmal war die Gasse. Zudem stieg sie bergan. Stufen waren hin und wieder in den Fels geschlagen worden, so dass derjenige, der die Gasse durchschritt, besser vorankommen konnte.
An einer Krümmung hatte sie die Stimme vernommen, aber sie traute sich nicht, den Kopf zu drehen und in die Nische hineinzuschauen. Stur blickte sie nach vorn und fragte: »Was willst du von mir?«
»Gehst du nach Hause?«
»Ja.«
»Gut, ich werde dort sein und mit dir reden. Man wird mich nicht sehen, wenn ich dein Zimmer betrete, aber ich bin da. Geh jetzt weiter, Gabriela, und schau dich nicht um.«
Sie nickte heftig; hob die dunkle selbstgehäkelte Stola enger um ihre Schultern und lief weiter. Diesmal schneller als zuvor. Ihre Schritte waren auf dem Kopfsteinpflaster deutlich zu hören.
In der Oberstadt, wie man den Ortsteil nannte, lebten die Einheimischen.
Hier verloschen zumeist schon bei Anbruch der Dunkelheit die Lichter.
Man war sparsamer als unten, wo die Hotels, Pensionen und Restaurants dicht nebeneinander lagen und sich Touristenströme durch enge Straßen wälzten, um etwas von der griechischen Insel-Romantik zu schnuppern.
Sie hatte nicht mehr weit zu laufen. Die Gasse endete vor einer Steinmauer. Auf ihr waren zahlreiche kleine Häuser errichtet worden. Ein Gitter grenzte den Mauerrand ab, damit niemand nach unten auf die Straße fallen konnte.
Die breite Steintreppe führte schon seit einer kleinen Ewigkeit zu den Galerie-Häusern hoch. Auf der Treppe lag der alte Mischa, ein russischer Emigrant, er schlief seinen Samos-Rausch aus. Das tat er jeden Tag im Sommer.
Mischa tanzte für die Touristen, und er bekam von ihnen Wein, Essen und Geld. Wichtig war für ihn der Samos. Er gab ihm, was er brauchte.
Gabriela stieg über den Schlafenden hinweg und nahm die letzten Stufen, wo sie sich nach links wandte. Ein wenig komisch war ihr schon zumute. Sie hatte die Stimme zwar gehört, wusste aber nicht, wer etwas von ihr wollte.
Ein Fremder bestimmt nicht, der kannte nicht ihren nächtlichen Heimweg, und einen Einheimischen hätte sie erkannt.
Ein wenig fröstelnd lief sie dicht am Gitter entlang. Der Blick über das Meer war von dieser Stelle aus herrlich. Auf der dunklen Fläche funkelten auch die Positionsleuchten der Schiffe.
Gabriela wohnte im zweitletzten Haus. Jeder Bau besaß nur zwei Zimmer. Bis vor drei Jahren hatte sie es noch mit ihrer Mutter geteilt, dann war die alte Dame verstorben.
Gabriela, inzwischen 22, hätte gerne geheiratet, doch der Richtige war ihr noch nicht über den Weg gelaufen.
So blieb sie allein, und wenn sie einmal frei hatte, brauchte sie keinen Begleiter, denn die Geheimnisse der Berge konnte sie auch allein erkunden. Dort, in der Einsamkeit, kam man den Grunddingen des Lebens am besten auf die Spur.
Trotz ihrer 22 Jahre war sie eine ungewöhnliche junge Frau. Sie dachte viel, und dieses Nachdenken hatte in ihrem gebräunten Gesicht Spuren hinterlassen. Es wirkte ernster als das ihrer Altersgenossinnen. Vielleicht trug auch der strenge Haarschnitt daran die Schuld, denn die dunkle Pracht war straff nach hinten gekämmt und endete am Nacken in einem Pferdeschwanz.
Als sie den Schlüssel in das einfache Schloss schob, spürte sie schon Herzklopfen. Sie fand keinen äußerlichen Hinweis darauf, dass jemand die Wohnung
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