0456 - Shao - Phantom aus dem Jenseits
dem Kotflügel. Sie hatte die Schultern angehoben und sah aus, als würde sie frösteln. Manchmal zuckten ihre Wangen, ich sah ihren fragenden und leicht ängstlichen Blick auf mich gerichtet und lächelte ihr zu.
»Keine Sorge, Mädchen, wir schaffen das schon.«
»Du hast Shimada erwähnt. Wenn er wirklich dabei ist, wird meine Angst noch größer.«
»Abwarten.« Nebeneinander schritten wir auf das schmiedeeiserne Tor zu, das auch eine Besonderheit zeigte. In das Filigran des Metalls war eine Buddhafigur eingearbeitet. Sie glänzte feucht in der Nebelnässe.
Ich öffnete das Tor. Sheila blieb noch zurück. Sie stand da wie jemand, der Angst vor dem entscheidenden Schritt hatte.
»Komm.« Ich streckte ihr den Arm entgegen, und Sheila griff nach ihm.
Man merkte, dass es Herbst geworden war. Erste Blätter hatten sich von den Zweigen und Ästen gelöst und waren zu Boden gefallen. Da die Blätter noch relativ trocken waren, konnte ich ein Rascheln leider nicht vermeiden. Wer immer sich auf dem Friedhof aufhalten mochte, er würde uns hören können. Das war nicht zu vermeiden.
Sheila fürchtete sich. »Gib mir deine Hand, John«, bat sie mich und tastete nach meinem Gelenk. »So fühle ich mich sicherer.«
Ich lächelte still in mich hinein, obwohl ich zugeben musste, dass dieser Friedhof tatsächlich einen unheimlichen Eindruck machte. Es lag nicht allein an den lautlos daher gleitenden Dunstschwaden, die sich manchmal kunstvoll um die Grabsteine drehten, es waren auch die Gräber und Steine selbst, die den Eindruck noch verstärkten.
Wenn wir nahe an ihnen vorbei schritten, sah es so aus, als würden sich gefährliche Fratzen aus dem Dunst schieben, die uns mit ihren grinsenden oder verzogenen Grimassen auslachten oder uns sagen wollten, dass wir diesen Friedhof nicht mehr lebend verlassen würden.
Da sich der Nebel bewegte, übertrug sich dies auch auf die Grabsteine, Sheila gefiel diese optische Täuschung überhaupt nicht. Ich merkte dies, als sie eine indirekte Frage stellte.
»Müssen wir über den ganzen Friedhof gehen?«
»Leider.«
»Und dann den Hügel hoch?«
Ich nickte. »Er liegt am Ende des Friedhofs. Auf seiner Kuppe befindet sich eine flache Platte. So etwas Ähnliches wie ein Grabstein.«
»Und darauf hat Shao gelegen?«
»So ist es.«
Sheila schüttelte sich. Wahrscheinlich stellte sie sich die Szene vor, als der kalte Körper der Chinesin dort lag und ein von Trauer und Schmerz gepeinigter Suko neben dem Stein gekniet hatte.
Die einzelnen Gräber waren nicht mehr zu erkennen. Schon seit Jahren begrub man auf diesem Gelände keine Toten mehr. Die Stadt hatte sich dagegen ausgesprochen, deshalb stachen die Gräber auch von dem normalen Untergrund kaum ab.
Wir schritten über sie hinweg, ohne es zu merken. Weder Blumenschmuck noch kleine Lichter sahen wir. Uns umgab die Stille eines düsteren, nebelverhangenen Friedhofs. Da wirkten unsere Schritte manchmal schon regelrecht störend.
Eine genaue Uhrzeit war uns beiden nicht mitgeteilt worden. Wir sollten vor Mitternacht den Friedhof erreicht haben. Das hatten wir getan.
Obwohl ich mich schon einmal hier aufgehalten hatte, war es schwierig für mich, den genauen Weg zu finden. Die ungefere Richtung wusste ich.
Hoch wachsendes Gras wurde von unseren Füßen geknickt.
Dazwischen raschelten die Blätter. Hin und wieder duckten wir uns auch unter den knorrigen Ästen alter Bäume hinweg oder streiften hautnah an schiefen Grabsteinen entlang.
Sheila zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie einen solchen berührte.
Sie schien sich vor ihnen zu fürchten.
Ich lachte leise. »Du brauchst keine Angst zu haben, Mädchen. Die tun dir bestimmt nichts.«
»Kann sein. Aber was ist mit denen, die in der Erde liegen? Bleiben sie dort?«
»Bestimmt.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Keine Sorge. Dieser Friedhof ist völlig normal, nur ein wenig verwildert, deshalb wirkt er so unheimlich.«
Sheila schüttelte den Kopf, weil sie es nicht glauben wollte, ging aber weiter, und wir hatten auch das Glück, genau das Gelände zu erreichen, nach dem wir gesucht hatten.
Ich hatte es schon vorher geahnt, als die Reihen der Grabsteine nicht mehr so dicht standen. Von nun an stieg das Gelände an, ein Beweis, dass wir uns am unteren Rand des kleinen Hügels befanden. Nur noch Blätter und Gras bildeten die Unterlage.
Büsche und Sträucher lagen hinter uns, die Bäume sowieso, aber vom Hügel sahen wir ebenfalls so gut wie nichts.
Eine Dunstwolke
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