0464 - Gemälde des Grauens
weit aufgerissenen Mäulern, die über Friedhöfe schlichen und dabei waren, Gräber aufzureißen.
Langsam gingen die beiden Frauen an der Reihe der aufgehängten Gemälde entlang. Hatten sie das Bild, von dem gesprochen worden war, schon passiert?
Nein, es hing tatsächlich als letztes in der Reihe, und Sarah Goldwyn entdeckte es zuerst.
Sie blieb stehen und deutete nach vorn. »Da, Jane, schau es dir an!«
Die Augen der Detektivin weiteten sich. Sie bekam eine Gänsehaut, schüttelte den Kopf und flüsterte: »Das gibt es doch nicht.«
»Doch es ist wahr!«
Zwischen dem Rahmen und auf Leinwand hatte Antonio Vargas die vier bekanntesten Gestalten der Horror-Literatur gemalt.
Der Vampir, der Werwolf, die Mumie und der künstliche Mensch.
Und sie alle starrten den Betrachter an, als würden sie leben und nur darauf warten, aus dem Rahmen springen zu können…
***
Lady Sarah Goldwyn stieß den Atem aus und wischte über ihre Stirn, auf der ein leichter Schweißfilm lag. »Das ist allerdings ungewöhnlich«, gab sie zu. »Woher konnte Vargas das wissen?«
»Was?« fragte Jane.
»Schau dir die Gestalten an. Dieser Vampir sieht aus wie der Schauspieler Christopher Lee. Das gleiche ist mit dem Frankenstein-Monster geschehen. Nur die Mumie und der Werwolf sehen so aus, wie man sie sich immer vorstellte. Trotzdem hat er sie zielgenau getroffen, denn später haben die Filmregisseure auch die Gestalten übernommen.«
»Du hast recht«, flüsterte Jane. »Außerdem sieht das Bild aus wie gerade gemalt.«
»Dabei ist es 1.00 Jahre alt.«
Jane hob die Schultern. »So echt, als würde der Vampir gleich aus dem Bild springen und versuchen, unser Blut zu saugen.«
»Vielleicht hat er das schon getan!«
»Wie?«
»Denk an diesen Mord, von dem der Kassierer erzählt hat.«
»Dann würde ja das Bild leben.«
»Weiß man es?« erwiderte Lady Sarah orakelhaft.
Jane wollte Gewißheit haben und trat noch einen Schritt näher an das Gemälde heran. So nah, daß ihr Atem über die dort abgebildeten Figuren hinwegstrich.
Sie wußte nicht, ob sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen sollte.
Bei Ausstellungen war es verboten, die Gegenstände anzufassen, aber hier mußte sie einfach dieses Verbot umgehen. Sehr vorsichtig hob sie den rechten Arm an und brachte ihre Fingerspitzen in die Nähe der gemalten Köpfe. Möglicherweise konnte sie fühlen, was sich dahinter verbarg, vielleicht bestand auch die Farbe aus bestimmten Zusammensetzungen, die dem Bild diese Wirkung gaben.
Ihre Finger strichen darüber hinweg. Sie fing bei dem Frankensteinkopf an, der sehr bleich gemalt war, doch links und rechts an der hohen Stirn rannen zwei Blutstreifen nach unten.
Sarah Goldwyn sagte kein Wort, auch Jane enthielt sich eines Kommentars. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf ihre Aufgabe.
Die Fingerkuppen strichen über das Gesicht. Jane konnte nicht sagen, ob die Haut echt oder gemalt war. Jedenfalls sah sie wie echt aus, und sie tastete sich bis zu den Enden der Blutstreifen vor.
Erschreckt zog sie die Hände wieder zurück.
»Was hast du?« fragte die Horror-Oma.
Jane spreizte die Finger. Die Kuppen waren dort, wo sie die Streifen berührt hatte, blutig…
***
Keine der beiden sprach ein Wort.
Lady Sarah schaute auf das Blut, dann in Janes Gesicht und hob die Schultern. »Das gibt es doch nicht«, hauchte sie. »Verflixt, das ist nicht wahr.«
»Doch, das gibt es. Ich glaube auch daß es keine Farbe ist, sondern echtes Blut.«
Sarah Goldwyn nickte und schaute dann an Jane mit starrem Blick vorbei. »Wenn es tatsächlich echtes Blut ist – und alles spricht dafür –, wo kommt es dann her?«
»Ich weiß es nicht.«
»Von dem Monster?«
»Nein, aber ich denke an den Mord, der passierte. Ein Vampir soll ihn begangen haben…«
»Dann hätte er aus dem Bild steigen müssen.« Lady Sarah schlug gegen ihre Stirn.
»So ist es.«
»Und er wäre anschließend wieder zurückgekehrt. Das ist unglaublich, daß ich…«
»Auch unmöglich?« fragte Jane.
Sarah Goldwyn schaute sie an. Dann nickte sie. »Du hast recht, Jane, ja, du hast recht. Unmöglich ist es nicht. Dieses Bild ist mir nicht geheuer.«
»Mehr noch«, sagte Jane. »Es ist sogar gefährlich, wenn nicht tödlich, meine Liebe.«
Sarah Goldwyn sagte zunächst nichts, fragte aber dann: »Wie kommst du darauf?«
»Ich spüre es.«
»Dein Gefühl, Jane?«
Sie nickte. »Ja, mein Gefühl. Es ist einfach da und läßt sich nicht verdrängen. Ich sage dir, dieses
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