0464 - Gemälde des Grauens
unterwegs!
Er hatte sich von den anderen Monstren getrennt, die ihm nichts bedeuteten, denn allein auf ihn kam es an. Er war der Führer, der alles in die Hand nahm. Er hatte dafür gesorgt, daß die Kraft aus einer nicht erklärbaren Quelle wieder floß. Daß einstige Phantasiegestalten zu einem realen Leben erwachten.
Und er würde den Mord wieder begehen.
Immer wieder trieb es ihn zum Töten. Das Richtbeil mußte in Bewegung bleiben, denn er wollte die Köpfe rollen sehen. Immer wieder mußte dieser Maler sterben.
Wie auch heute…
Den Vampir zog es durch den Nebel. Ein ideales Wetter für ihn.
Er schritt durch den lichter gewordenen Wald, wich den Baumstämmen aus, schien manchmal mit dem Nebel zu zerfließen und schwang sein Richtbeil mit einer schon künstlerisch aussehenden Grazie.
Lässig hackte er im Wege stehende Äste und Zweige ab. Seine Füße schaufelten Laub in die Höhe, das Gesicht blieb unbewegt. Ein grauer, länglicher Schatten über seiner düsteren Kleidung.
Der Vampir wußte, daß sein Opfer in der Nähe war. Er roch es. Er witterte es wie ein Raubtier die Beute. Zwar hatte er es nie sehen können, aber das Gespür war ihm gegeben worden. Die Ausstrahlung konnte man einfach nicht vergessen, auch wenn noch so viele Jahre vergangen waren.
Und so ging er weiter.
Schritt für Schritt, Meter für Meter näherte er sich seinem Ziel. Er verließ den Wald, gelangte auf ein weites Rasenstück und hätte jetzt eigentlich gesehen werden können, aber die graudunklen Dunstschleier umgaben ihn wie einen Mantel.
Und so setzte er seinen Weg fort.
Zu ihm, nur zu ihm…
Und das Opfer wartete ebenfalls.
Es hatte das Haus verlassen, sich verkrochen wie die Maus vor der Katze, aber es wußte genau, daß es der Rache nicht entkommen konnte. Der Vampir würde ihn finden, egal, wo er sich auch verbarg.
Jetzt hockte er verschüchtert im knorrigen Unterholz, das ihn einigermaßen deckte. Er hatte seine Handballen gegen den Mund gepreßt und atmete nur mehr durch die Nase. Trotz der Kälte lag Schweiß auf seinem Gesicht, der Atem ging schnell und hastig, und die Umgebung, in die er aus großen Augen gestarrt hatte, verschwamm allmählich vor seinem Blick und schuf einer anderen Szenerie Platz.
Ein Atelier entstand vor seinem geistigen Auge. Ein Kamin, brennende Kerzen, eine Staffelei, die das Bild zeigte, das innerhalb der Ausstellung hing.
Und er sah einen Mann.
Noch jung, so gekleidet wie im letzten Jahrhundert. Der Mann hatte ein ernstes Gesicht aufgesetzt. Er ging zum Kamin und holte dort einen Holzkloben hervor, den er an einer Seite anbrannte.
Godfrey Lester wußte genau, was der andere vorhatte. Er würde zum Bild gehen und die Flamme gegen die Leinwand halten, damit sie vom Feuer vernichtet wurde.
Aber klappte das auch?
Noch zögerte der Maler, stand davor, schaute das Bild an und sah plötzlich wie sich der Vampir hervorschob und eine Axt zeigte.
Godfrey Lester hatte das Gefühl, direkt neben dem Fremden und ihm doch so Vertrauten zu stehen. Die Axt wuchs, die große Klinge wurde zu einer verzerrten Teufelsfratze, dann packte ihn der Schmerz.
Der Mann schrie.
Er schrie lange und intensiv. Er heulte, flehte und jammerte, wälzte sich über den feuchten Boden, schleuderte Laub in die Höhe, während Tränen über sein Gesicht rannen.
Erst jetzt merkte Godfrey Lester, daß er es gewesen war, der so geschrien hatte.
Nicht der Fremde!
Aber er hatte dessen Tod so intensiv miterlebt. Sogar den körperlichen und seelischen Schmerz. Beides hatte ihn hart getroffen wie noch nie zuvor.
Lester blieb liegen. Die Hände in das nasse, feuchte Laub gekrallt, das den Boden bedeckte. Auch sein Gesicht hatte er hineingewühlt, und er litt noch immer unter diesen furchtbaren Erinnerungen, die ihn so plastisch bedrängt hatten.
Er jammerte, als er sich aufstützte und mit beiden Händen fahrig über seinen Körper fuhr, als suchte er ihn nach Verletzungen ab.
Kein Tropfen Blut bedeckte seine Hände, als er sie wieder zurückzog und sich aufstemmte.
Gebückt blieb er stehen, seine Hand umklammerte einen in der Nähe stehenden dünnen Baumstamm.
Weshalb hatte der Fluch ihn gerade getroffen? Weshalb nur? Wer war er überhaupt?
»Ich bin Godfrey Lester!« keuchte der Maler. »Verdammt, ich bin Lester!« Bei jedem Wort quoll eine Atemwolke aus seinem Mund.
»Ich bin Lester, ich bin es!«
Oder doch nicht?
War er nicht auch eine andere Person? Hatte er nicht das Leiden und den Tod des Fremden
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