0466 - Die Königin von Saba
hat mich verstanden, John. Mein Gott, sie hat mich verstanden.« In ihrer Erregung umarmte mich die Wissenschaftlerin und schüttelte mich durch.
»Ich sah es, Jenna.«
»Wissen Sie, was das für mich und die Wissenschaft und die ganze Welt bedeutet? Es ist einfach unbegreiflich und sagenhaft.«
»Reden Sie weiter mit ihr!«
»Ja, entschuldigen Sie.« Jenna schüttelte den Kopf. »Ich mußte erst mit dieser Tatsache fertig werden, das ist alles so neu für mich, so - na ja…«
Ich half ihr mit, damit sie sich wieder umdrehen und die Königin anschauen konnte. Die hatte ihre Haltung nicht verändert. Noch immer hielt sie die Arme vor ihren Brüsten verschränkt. Das weiße, schlichte Linnentuch reichte ihr fast bis an die Knöchel. Es war in der Mitte geschlitzt. Da sie ein Bein leicht angewinkelt hatte, schaute auch ein Teil des Knies hervor.
Jenna formulierte ihre nächste Frage. Sie sprach wie ein Kind, das zum erstenmal einen zusammenhängenden Satz formulierte. Sehr langsam und jede Silbe betonend, damit auch nichts verschluckt wurde und die Königin alles mitbekam.
»Bist du die Königin von Saba?«
Auch ich war jetzt innerlich aufgewühlt. Zwar nicht so wie Jenna, aber falls die Person im Kreuz tatsächlich die Königin war, konnte dies auch mich betreffen. Der Geschichte oder der Bibel nach hatte sie dem weisen König Salomo einen Besuch abgestattet und ihm ein Rätsel aufgegeben. Und Salomo, das wußte ich, hatte einmal mein Kreuz besessen. Vielleicht war er der erste Besitzer nach dem Propheten Hesekiel gewesen, aber darüber lag nach wie vor noch der Schatten eines Geheimnisses.
Sie schwieg.
Auch in ihrem Gesicht bewegte sich vorläufig nichts. Dann aber zuckten die Lippen. Es sah so aus, als wollte sie den Mund öffnen. Dessen Winkel verzogen sich nur, reden konnte sie nicht. Wir sahen, daß sie sich anstrengte, aber irgendeine Kraft hinderte sie daran. War es möglicherweise die Macht der Layana?
»Bitte, gib Antwort!« forderte Jenna flüsternd. »Du mußt dich uns offenbaren…«
Und die Königin antwortete abermals auf ihre Weise, indem sie die Augenlider senkte.
Jenna war geschockt und gleichzeitig überrascht. Sie ging einen Schritt zurück. Dabei bemerkte sie kaum, daß sie gegen mich stieß, und ich hielt sie fest.
»Das ist es, John, das ist der Beweis. Sie ist die Königin von Saba, und ich habe sie gesehen.«
»Aber sie wird nicht sprechen können!«
Jenna fuhr herum. »Weshalb nicht?«
»Denken Sie an ihre Feindin Layana. Sie ist es doch, die…«
»Nein, ich muß sie dazu zwingen. Ich brauche Informationen. Erst dann kann ich wieder anfangen zu suchen. Ich will einen konkreten Plan haben und ihr Grab finden. Vielleicht hat man sie mumifiziert wie einen mächtigen Pharao. Dann könnten wir den Leichnam herausnehmen und ihn untersuchen lassen.«
»Noch haben Sie die Chance, Jenna!« drängte ich.
»Ja, entschuldigen Sie.« Jenna schlug gegen ihre Stirn. »Ich war eben durcheinander.« Sie drehte sich wieder um.
Stumm schaute die Königin auf uns herab. Mir war der Blick zu arrogant, damals hätte man ihn möglicherweise als königlich oder hoheitsvoll bezeichnet, und sie war ja von ihrem Volk wie eine Göttin verehrt worden. Da bleibt immer etwas hängen.
»Wo hast du gelebt, Königin? Bitte, du mußt jetzt die Wahrheit sagen. Es ist ungemein wichtig. Wo?«
Sie gab keine Antwort.
»Reden Sie weiter, Jenna!« zischte ich. »Machen Sie es ihr leichter. Sie kann ja nicht sprechen.«
»Ja, natürlich.« Jenna holte tief Atem. »Die einen sagen in Aksum, in der alten Königstadt. Stimmt es?«
Die Königin von Saba schwieg, auch als Jenna Jensen die Frage noch einmal stellte und plötzlich einen verzweifelten Eindruck machte.
»Es ist doch noch eine Stadt erwähnt worden!« half ich der Wissenschaftlerin auf die Sprünge.
»Das weiß ich.«
»Dann los!«
»Oder war es Marib, der toten Stadt, wo der gewaltige Tempel stand. Noch heute sind die fünf Säulen zu sehen. Die Sabäer haben den Tempel gebaut. War es auch deine Stadt?«
Jetzt kam es darauf an.
Wir hielten beide den Atem an. Wenn sie uns jetzt eine Antwort gab, konnte diese tatsächlich für die Wissenschaft und die Menschheit von großer Bedeutung sein.
Und dann sahen wir wieder das leichte Flattern der Augenlider. Es war nur eine kurze, kaum wahrnehmbare Bewegung, wie das Zucken von Schmetterlingsflügeln, und sie wäre auch kaum aufgefallen, wenn sie zuvor nicht in große Starre verfallen wäre.
Jenna
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