0467 - Der Nebelmörder
einen Schock erlitten. Als ich die Toilette suchte, den Toten sah, dazu das viele Blut und dann noch den Mörder und das gewaltige Skelett, da wurde mir ganz anders. Da hat mich die Angst gepackt.«
Ich nickte. »Klar, wem würde das nicht so ergehen?«
»Aber du wirst uns Bescheid geben, John?«
Ich hob die Hand. »Ehrensache. Und noch etwas. Welchen Zeitpunkt hat Lorraine Carr dir denn genannt?«
»Punkt zwanzig Uhr.«
Ich stand auf. »Dann werden Suko und ich bereits über eine Stunde dort sein…«
***
Lorraine Carr stand vor dem kleinen Fenster in ihrem Wohnraum und hatte die Stirn gegen die kühle Scheibe gedrückt. Es tat gut, die Kälte auf der schweißfeuchten Haut zu spüren. Dennoch konnte ihre innere Hitze nicht gelöscht werden.
Sie dachte darüber nach, ob es richtig gewesen war, Sarah Goldwyn über das Treffen zu informieren. Schließlich war sie eine Fremde, die mit dem Filmgeschäft überhaupt nichts zu tun hatte. Andererseits war ihr die ältere Lady so sympathisch gewesen, dass Lorraine einfach den Drang verspürt hatte, mit ihr zu telefonieren. Und zugesagt hatte sie auch nicht.
Sie glaubte kaum daran, dass Sarah Goldwyn an den Ort zurückkehren würde, wo sie etwas so schreckliches erlebt hatte.
Dennoch blieben letzte Zweifel.
Lorraine blickte auf die Uhr. Es ging auf den Mittag zu. Draußen war der Nebel nur etwas lichter geworden, aber noch immer krochen die Autos nur so dahin.
Zu Fuß kam man besser voran, und die meisten Londoner hatten die Wagen auch in der Garage gelassen.
Lorraine Carr hasste den Nebel. Sie gehörte zu den Menschen, die den Sommer über alles liebten. Da war sie agil, da war sie aktiv, da konnte sie die wärmenden Strahlen genießen. Aber der Herbst oder der schneelose Winter waren Gift für ihr Gemüt.
Zudem wartete sie auf eine neue Rolle.
Man hatte ihr eine angeboten, doch die hatte Lorraine abgelehnt. Sie wollte nicht in einem erotischen Film mitwirken. Dieser Begriff war häufig nur die Umschreibung für einen Porno.
Von der letzten Gage würde sie sich noch einige Wochen über Wasser halten können. Was dann kam, musste man mal sehen. Vielleicht hatte Dino auch ein neues Projekt im Hinterkopf und wollte deshalb die Zusammenkunft der Crew. Oft war eine gewisse Negativ-Werbung besser als ein wohldurchdachtes Konzept.
Lorraine ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür und fand das Innere fast leer bis auf einen halbrunden französischen Weichkäse. Sie verspürte Hunger. Wenn sie etwas anderes essen wollte als das Stück Käse, musste sie noch einkaufen.
Zeit genug war.
Lorraine Carr zog in der Minidiele den Thermomantel über das figurbetonte Strickkleid und band den knallroten Schal um den Hals. Sie war immer sehr besorgt um ihre Stimme. Schließlich wurde sie hin und wieder als Synchron-Sprecherin engagiert.
Eine Minute später hatte sie die Wohnung verlassen. Sie hasste dieses alte Haus, in dem es feucht war. Im Parterre noch stärker als bei ihr in der ersten Etage.
Unten im Flur spielten Kinder mit kleinen Autos.
Lorraine trat nach draußen. Der Nebel hüllte sie ein, als wäre sie in eine Waschküche gegangen. Unwillig zog sie die dunklen Augenbrauen zusammen, aber sie konnte nichts an dem Wetter ändern. Einen Film auf den Bahamas müsste man drehen, dachte sie, oder mit dem Traumschiff unterwegs sein wie eine deutsche Kollegin, mit der sie befreundet war und die ihr von dieser Reise vorgeschwärmt hatte.
Den Weg zum Supermarkt kannte sie. Er führte an einem Baugrundstück vorbei, das zum Gehsteig hin durch einen Lattenzaun gesichert war.
Früher war auf dem Gelände ein Spielplatz gewesen. Er hatte leider weichen müssen.
Nach einem Fußweg von sechs Minuten durch den dicken Nebel hatte sie ihr Ziel erreicht. Vor dem Supermarkt standen die eisernen Fahrradständer. Die Räder klemmten mit ihren Vorderreifen in den schmalen Spalten.
Die meisten Anwohner wussten, welchem Beruf Lorraine nachging, und wenn sie »erkannt« wurde, fühlte sie so etwas wie Stolz.
Sie kaufte nur wenig ein. Etwas Brot, auch geschnittenen Käse, Milch und eine Flasche Rotwein. An der Kasse ließ sie sich eine Tüte geben und verließ das Geschäft.
Es war alles so normal, bis eben auf den Nebel, der fast alles zudeckte.
Eine dicke Schicht, mal heller, mal grauer und schlecht für die Bronchien. Trotz des wärmenden Thermomantels fröstelte Lorraine.
Vielleicht war es auch die innere Kälte, die sie umfangen hielt. Sie sehnte sich nach ihrer Wohnung, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher