0472 - Sie war nur ein 5-Dollar-Girl
Er hätte Sie gern mal gesprochen. Darf ich ihn hochschicken? Ja? Vielen Dank!« Er legte auf und sah mich grinsend an. »Einen Schrei!« meinte er kopfschüttelnd. »Sie hat sich vielleicht in den Finger geschnitten oder auf andere Weise verletzt. Das machte sie wütend, und deshalb hatte sie keine Lust aufzumachen.« Der Lift brachte mich wieder nach oben.
Eine blonde junge Frau öffnete auf mein Klingeln die Tür. Es war die gleiche, die ich auf dem Foto gesehen hatte. Mir fiel auf, daß sie zwar sehr blaß war, daß aber ihre linke Wange eine feuerrote Färbung hatte. Mrs. Hutchlay war etwas über mittelgroß, sie hatte blaugrüne Augen und auffallend lange Wimpern. Bekleidet war die junge Frau mit einem Hausanzug aus kaffeebraunem Jersey.
Sie führte mich ins Wohnzimmer. Der Raum war modern, aber irgendwie unpersönlich eingerichtet. Man hatte das Gefühl, daß die Hutchlays blindlings einem Wohntrend gefolgt waren, der ihnen von Fachzeitschriften und den Anzeigen einer regen Möbelindustrie eingeimpft worden war.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz!« sagte die Frau.
Ich fand, daß sie ihre Nervosität nur mühsam zu beherrschen vermochte, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Es gibt nur wenige Menschen, die der Besuch eines G-man nicht nervös macht. Der Teufel mag wissen, woran das liegt. Bei Dolores Hutchlay mochte es für diese Unruhe allerdings sehr gewichtige Gründe geben.
Die Frau setzte sich. Ich blieb stehen. »Hat der Lieutenant schon angerufen?« Dolores Hutchlay sah verblüfft aus. »Welcher Lieutenant?«
»Brunch ist sein Name«, sagte ich. »Er ist Leiter der Mordkommission.« Jetzt rötete sich auch Mrs. Hutchlays rechte Wange. »Handelt es sich um meinen Mann?«
Ich nickte ernst. »Ich bringe Ihnen schlechte Nachrichten, Mrs. Hutchlay. Ihr Mann ist tot. Er wurde ermordet.« Dolores Hutchlay schaute mich an. Dann senkte sie den Blick. Ein paar Sekunden blieb sie reglos sitzen. Dann griff sie nach einer Schachtel Zigaretten, die auf dem Couchtisch lag.
Ich gab ihr Feuer. »Sie haben es gewußt, nicht wahr?«
Mrs. Hutchlay inhalierte tief. Dann stieß sie langsam den Rauch aus. »Ich habe immer befürchtet, daß es eines Tages so kommen würde.«
»Seit wann sind Sie mit ihm verheiratet?«
»Seit zwei Jahren.«
Ich stellte noch ein paar der üblichen Fragen, um ihre Reaktion zu testen. Ich fand, daß sie sich plötzlich beruhigt hatte, als wisse sie, daß nun das Schlimmste vorüber sei.
»Mir fällt auf, daß Sie nur meine Fragen beantworteten, ohne selbst welche zu stellen«, sagte ich. »Wollen Sie nicht wissen, wo und wie es passiert ist?«
»Wie und wo ist es passiert?« fragte sie gehorsam.
»In Brooklyn. In der Wohnung eines Mannes, der Jack Commers heißt. Commers ist Nachtportier in Hartleys Hotel.«
»Ich höre den Namen zum erstenmal.«
»Commers behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben, aber einige Dinge sprechen dagegen. Besaß Ihr Mann eine Pistole?«
»Ja, ich glaube.«
»Sind Sie nicht sicher?«
»Doch, ja, er hatte eine Pistole.«
»Würden Sie die Waffe wiedererkennen?«
»Nein, für mich sieht eine Pistole wie die andere aus«, erwiderte sie.
»Wozu brauchte er die Waffe?«
»Er liebte Pistolen. Und er meinte, es sei gut, wenn man sich seiner Haut wehren könnte.«
»Fühlte er sich bedroht?«
»Ja, ich denke schon.« Dolores Hutchlay blickte mir kaum in die Augen. Sie schaute entweder an mir vorbei, oder sie starrte auf die Spitzen ihrer goldbestickten Pantöffelchen.
»Von wem?«
»Wie bitte?«
»Ich hätte gern gewußt, von wem er sich bedroht fühlte.«
»Das weiß ich nicht. Herb war in mancher Hinsicht ein seltsamer Mensch. Es gehörte zu seinen Prinzipien, mir jeden Ärger fernzuhalten. Es gab Dinge, über die er einfach nicht sprach. ,Über seinen Beruf zum Beispiel. Oder über seinen Chef. Ja, darin war er sehr merkwürdig.«
»Sie wissen nicht, auf welche Weise er sein Geld verdiente?«
Dolores Hutchlay schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Warum haben Sie vorhin die Tür nicht geöffnet?« wollte ich wissen.
Der plötzliche Themawechsel schien sie zu erschrecken, denn sie zuckte zusammen. »Ich gehe nicht immer zur Tür«, murmelte sie, den Blick auf die Pantoffelspitzen gerichtet. »Meistens stehen Hausierer draußen.«
»Ich hörte einen Schrei«, informierte ich sie, »den Schrei einer Frau.«
»Tatsächlich?« fragte sie und blickte mich kurz an.
»Dafür schulden Sie mir eine Erklärung.«
»Ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher