0473 - Botin des Unheils
Pechsträhne jener geradezu aufdringlich-freundlichen Frau in jenem Moment beginnen würde, in dem sich zwischen ihnen das erste engere Gespräch abspielte. Naomi versuchte sich so weit wie möglich abzukapseln, aber es gelang ihr nicht so, wie sie es eigentlich wollte.
Deshalb suchte sie schon sehr bald wieder nach einer anderen Unterkunft. Aber die Zeiten waren anders geworden. Wohnungen waren knapp, und für Alleinstehende wie Naomi war es fast unmöglich, eine Wohnung zu bekommen. Drüben in Deutschland sollte das noch viel schlimmer sein, hörte und las sie. Aber ihr reichten auch die hiesigen Verhältnisse völlig aus.
Nachts machte sie ausgedehnte Spaziergänge, damit ihr der Himmel nicht auf den Kopf fiel. Das war in Clermont-Ferand nicht so unkompliziert gewesen, und in Lyon wäre es vermutlich sträflicher Leichtsinn - nachts trieben sich die Lichtscheuen auf der Straße herum, und eine Frau wie sie war dann jagdbares Wild. Aber hier, in diesem kleinen Ort, war das anders. Hier konnte sie sich noch bei Dunkelheit draußen aufhalten und lange nach Mitternacht durch die Straßen schlendern, ohne mit Überfällen rechnen zu müssen.
Natürlich fiel das einigen Leuten auf, und ihre Kontaktscheu machte sie erst recht zu einer Fremden. Schon nach kurzer Zeit wurde ihr zugetragen, daß man sie hinter vorgehaltener Hand eine Hexe nannte, ihrer doch etwas eigenartigen Lebensgewohnheiten wegen.
Man interessierte sich für sie mehr, als ihr lieb war…
Sie dehnte ihre Spaziergänge immer weiter aus. Hinaus aus dem Ort und über Feldwege und in den Wald hinein. Und dort fand sie eine kleine Holzhütte. Sie sah aus, als sei sie vor langer Zeit schon einmal bewohnt gewesen. Aber jetzt war sie nicht einmal verschlossen, und Naomi Varese trat ein, und sah sich im Lichtschein ihrer Taschenlampe darin um. Staub lag fingerhoch, Spinnen und Käfer huschten verwirrt vor dem Licht davon. Es gab noch einfache Holzmöbel, es gab sogar Gardinen an den Fenstern. Die Hütte war durchaus bewohnbar, wenn man sich die Mühe machte, eine Menge Zeit und Arbeitskraft darin zu investieren.
Beides hatte Naomi.
Vor allem Zeit…
Es war seltsam. Neunzehn Jahre war es jetzt her, seit die Hexe Cila den Fluch gesprochen hatte. Aber der Spiegel verriet Naomi, daß sie in diesen neunzehn Jahren scheinbar nicht gealtert war. Wenn sie in den Spiegel schaute und ihr Abbild mit Fotos von damals verglich, mußte sie feststellen, daß sie sich nicht verändert hatte.
Dir selbst wird nichts geschehen. Hatte Cila sich damals nicht so ähnlich ausgedrückt?
Dir selbst wird nichts geschehen. Nicht einmal der alltägliche Vorgang des Alterns wird dir zustoßen…
War das ein weiterer Nebeneffekt dieses entsetzlichen Fluches?
Nicht mehr altern? Nicht eines Tages alt sein und sterben und sich durch den natürlichen Tod von diesem Fluch befreien können? Denn Selbstmord, diese erschreckende, aber einfache Alternative, kam für sie immer noch nicht in Frage.
Hatte Zauberei ihr Altern gestoppt? Dann war Cilas Fluch ja noch entsetzlicher, noch unentrinnbarer, als sie es jemals für möglich gehalten hatte, und plötzlich spielte sie doch mit dem Gedanken, sich ihrem Schicksal durch Freitod zu entziehen, aber erneut sperrt sich etwas in ihr vehement dagegen und sagte ihr, daß das nicht richtig sein konnte.
Aber auf welches Wunder sollte sie noch warten? Warum sollte sie noch weiterleben? Nur um bis ans Ende aller Tage für jeden anderen Menschen zur Unheilsbringerin zu werden?
Sie konnte sich darauf selbst keine Antwort geben.
Aber in den nächsten Tagen und Wochen begann sie sich für die Hütte im Wald zu interessieren, die etwa eine Stunde Fußmarsch von Montrottier entfernt lag. Ihre selbstgewählte Isolation hat sie gelehrt, alle Möglichkeiten der Fern-Kommunikation und Informationsbeschaffung zu begreifen, zu verinnerlichen und bei Bedarf anzuwenden. Sie war in der Lage, von ihrer Wohnung aus mehr Fakten in Erfahrung zu bringen, als ein anderer Mensch mit persönlichen Kontakten zu den Informanten schaffte. So brachte sie ziemlich schnell in Erfahrung, daß diese Hütte seit ungefähr zwanzig Jahren leer stand - und daß es niemanden gab, der Anspruch darauf erhob. Es war nicht einmal mehr bekannt, wer zuletzt hier gewohnt hatte.
Naomi ließ einige Zeit verstreichen.
Dann nahm sie diese Hütte in Besitz.
Zunächst blieb sie nur für zwei oder drei Tage von Montrottier fort. Sie brachte alles, was sie zur Renovierung der Hütte im Wald
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