0474 - Der Hexenstein
Vorsprünge waren schon nicht mehr klar zu erkennen. Besonders dann nicht, wenn auf ihnen kein Schnee lag. Der Frost hatte die Oberfläche der weißen Schicht glatt werden lassen. Eis glitzerte wie kleine Diamanten.
Vor uns lag eine enge Kurve. An der linken Seite wuchsen die Felshänge über. Ich mußte mich ducken, um nicht mit dem Kopf anzustoßen.
Die Tiefe der Schlucht blieb nie gleich. Im Laufe der Jahrtausende hatten sich wellige Formationen gebildet, kleine Hügel oder Talrinnen, bestückt mit kantigen Steinen.
Wir hatten die Stelle erreicht, wo die Schlucht am tiefsten war. Aus Gründen der Sicherheit war der rechte Wegrand mit einem Zaun versehen worden.
Aus der Tiefe stieg eine eisige Kälte empor. Sie kam mir vor wie der Hauch des Todes. Der Grund war kaum zu erkennen. Wir ahnten das schäumende Wasser mehr, als daß wir es sahen.
Ich ging weiter. Heinz Stahlmenger blieb dicht hinter mir. »Da vorn liegt der erste Tunnel«, sagte er.
Noch konnten wir die Öffnung erkennen. Sie wirkte wie ein halbrundes, dunkles Loch. Was dahinter lag, verschluckte die Dunkelheit. Wie mir der Deutsche erzählte, beschrieb der Weg im Tunnel einen Bogen.
»Wir müssen hindurch«, sagte er.
»Ideal für den Zombie. Einen besseren Hinterhalt hätte er sich nicht wünschen können.« Ich schob meine Hand unter die ärmellose Weste, die ich noch trug, und faßte nach der Beretta. Der Griff war kühl und glatt. Meine Finger glitten über ihn hinweg, und ich spürte so etwas wie ein beruhigendes Gefühl.
»Lassen Sie mich zuerst den Tunnel betreten«, riet ich Stahlmenger, als dieser vorgehen wollte.
»Wie Sie wollen, John. Er ist nicht lang, aber dunkel und unübersichtlich.«
»Klar.«
Ich hatte im Laufe der Zeit einen sechsten Sinn dafür bekommen, was Gefahren anging. Deshalb stürmte ich den Tunnel nicht. Vorsichtig und tastend setzte ich meine Schritte. Die Sohlen schleiften dabei über die glatte Schneefläche.
Direkt vor dem Eingang stoppte ich. Eiskalte Luft wehte mir ins Gesicht. Ich hatte das Gefühl, in eine Höhle gehen zu müssen, die kein Ende hatte.
Hinter mir blieb es normal. Heinz Stahlmenger stand mit leicht gespreizten Beinen nahe des Zauns.
Eine Hand lag auf dem runden Handlauf. »Sehen Sie etwas, John?«
»Nein, noch nicht.«
Bevor ich den Tunnel betrat, ließ ich meinen Blick noch einmal über die Felsen wandern.
Da war nichts zu sehen. Sie schwiegen sich aus. Die einbrechende Dunkelheit hatte sie verändert.
Manche von ihnen hatten Formen, die mich an böse, gewaltige Gesichter erinnerten, von deren Nasen lange Eiszapfen nach unten hingen.
Dann ging ich.
Den ersten Schritt, den zweiten. Beim dritten geriet ich bereits in den Schatten des Tunnels. Die hervorströmende Kälte umfaßte mich wie Arme aus Eis.
Und ich hörte den Schrei. Hinter mir, gellend, angstvoll. Ich flirrte herum.
Die Hexe war da, und sie hatte sich Stahlmenger geschnappt!
***
Noch in der Bewegung hörte ich dann das laute Brechen, als der Sperrzaun zerknackt wurde. Die Hexe besaß eine immense Kraft. Metall widerstand ihr nicht und erst recht kein Mensch.
Stahlmenger hatte sich noch zurückschwingen wollen, das war aber nicht mehr möglich gewesen.
Die gewaltige Klaue der Hexe erfaßte ihn und drückte ihn zusammen, als wäre die Klaue ein Gewinde. Ich sah den Arm, eine Schulter der Hexe, dann wurde Heinz vom Boden hochgerissen und über das zerbrochene Gitter geschleudert.
Ich wollte ihm nach, blieb aber schon im Ansatz stehen, denn die Hexe lockerte ihren Griff.
Heinz wußte, was auf ihn zukam. Er versuchte sich verzweifelt am Gelenk wie ein Turner an der Reckstange festzuklammern, aber das ließ seine Gegnerin nicht zu.
Sie wollte, daß er in die Tiefe fiel.
Ich griff zum Bumerang, kam jedoch nicht dazu, ihn einzusetzen, denn die zweite Gefahr näherte sich mir aus dem Tunnel.
Es war Thomas, der Zombie!
Er rannte herbei, wirkte auf mich wie ein Gespenst und schwang dabei seine mörderische Axt…
***
Obwohl ich von unserem zweiten Gegner gewußt und auch mit einem Angriff gerechnet hatte, war ich trotzdem überrascht. Nicht so sehr wegen der Tatsache des plötzlichen Auftauchens, nein, mir ging es um die Person des Zombies, mit dem ich schon vor mehr als zwei Jahren auf Leben und Tod gekämpft hatte.
Thomas war mir noch sehr gut in Erinnerung geblieben. Er hatte sich aber nicht so verändert, als daß ich ihn nicht erkannt hätte. Seine Gestalt war mit Schnee und Dreck verklebt, die Kleidung bestand
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