0474 - Der Hexenstein
Tunnel…«
»Okay, ich komme.« Diesmal lief ich schneller durch den Tunnel. Es war auch niemand da, der mich aufhielt. Bei jedem Schritt spürte ich das Tuckern im Kopf, aber damit mußte ich mich abfinden. Blessuren gehörten einfach zur Tagesordnung.
Ich ließ den Tunnel hinter mir, rief nach Stahlmenger und vernahm seine Antwort deutlicher. Sie wurde zusammen mit dem Rauschen des Wassers aus der Schluchttiefe hochgetragen.
»Schauen Sie nach unten. Soviel ich weiß, gibt es da einen schmalen Pfad, der bis zum Wasser führt. Ihn können Sie gehen. Nur der Schnee, der wird…«
»Ruhe jetzt, Heinz!« Ich hatte mich bereits über das Geländer geschwungen, stand nun direkt vor dem Abgrund, der gar nicht mehr so steil aussah. Nur den Pfad sah ich nicht, allerdings zwei nur zur Hälfte mit Schnee bedeckte Steine, die auf mich wie Markierungspunkte wirkten und möglicherweise den Beginn des für mich nicht sichtbaren Pfades anzeigten. Ich probierte es einfach.
Mit dem Schuh schabte ich Schnee zur Seite, drehte mich und ging schräg in die Tiefe.
Das alles konnte natürlich auch eine Falle der Gastern-Hexe sein, doch dieses Risiko mußte ich eingehen.
Es war eine Quälerei. Ich klammerte mich, wenn es möglich war, mit den Händen an den Steinen fest, rutschte auch mal bäuchlings über den Boden und hörte den Ruf des Deutschen.
»Ich sehe Sie, John! Sie sind auf dem richtigen Weg!«
Ich gab keine Antwort. Ich brauchte die Luft. Manchmal glitt auch Schnee nach, war schneller als ich und traf meinen ungeschützten Kopf, wo er wieder in den Haaren klebenblieb und einfach nicht wegtauen wollte.
Je tiefer ich gelangte, um so besser klappte es. Der Zufall hatte mir tatsächlich den schmalen, gewundenen Pfad gewiesen, der zum Wasser hinführte. Auch ich konnte mich besser bewegen, und bald vernahm ich die Stimme des Verletzten sehr deutlich.
»Sie sind gleich bei mir. Sie müssen noch um einen Felsen.«
»Den schaffe ich auch!« keuchte ich.
Leider wurde es noch einmal schwierig. Der Pfad unter mir war verdammt glatt und vereist. In die Tiefe schaute ich nicht. Mir reichte das Rauschen des Wassers.
Aber hoch über mir hatte der Himmel bereits seine Farbe gewechselt. Er ging allmählich über in ein dunkles Blau. Klappte es? Ja, ich schaffte auch den Rest und sah Heinz Stahlmenger auf einem genügend großen Vorsprung hocken, der auch mir noch Platz bot.
Der Deutsche grinste mich an. Schnee hing an seiner Kleidung, auch in seinem Gesicht klebten Flocken.
Ich keuchte, holte Luft und nickte ihm zu. Noch kniete ich vor ihm. Dann stellte ich die erste Frage.
»Wie schwer ist Ihre Verletzung, Heinz? Können wir zusammen nach oben?«
Er beugte sich etwas vor, blickte mich aus großen Augen an. In seinen Augenwinkeln entdeckte ich das gefrorene Tränenwasser. Sehr langsam schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht verletzt, John…«
»Was?«
Heinz hob die Schultern. »Es… es tut mir leid, mein Freund, aber ich mußte es…«
»Warum?«
Die nächsten Worte tropften fast über seine Lippen. »Sie hätte mich sonst getötet. Die Hexe wollte mich als Geisel haben, um für Sie die Falle zu stellen. Sie weiß, wie mächtig Sie sind, John, daß sie einen Zombie leicht erledigen können. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir tut, aber verstehen Sie mich. Ich habe auf Sie und Ihre Kraft vertraut. Vielleicht schaffen Sie die Hexe. Wenn nicht, sterben wir beide.«
Ich brauchte Heinz Stahlmenger nichts zu verzeihen, da ich mir vorstellen konnte, unter welch einer seelischen Hölle er gelitten hatte. Vielleicht war er daran sogar innerlich zerbrochen. Und im Prinzip hatte er recht. Ich hätte mich sowieso der Hexe stellen müssen, nur gefiel mir dieser Platz nicht.
»Sie… Sie sagen nichts?«
Ich streckte meinen Arm aus und schlug ihm auf die Schulter. »Keine Sorge, Heinz, das schaffen wir schon. Ich hätte an Ihrer Stelle kaum anders gehandelt.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Mein voller.«
Und dann war es wieder da. Dieses wahnsinnige Gelächter, das wir schon einmal gehört hatten. Es erfüllte die Schlucht, bildete unheimliche, hallende und böse klingende Echos, die uns entgegentobten.
Heinz Stahlmenger zuckte zusammen. Es war ihm anzusehen, daß er sich am liebsten im Fels verkrochen hätte, und ich sah auch den roten Schein, der über die Wände glitt.
Die Hexe mußte sich hinter mir befinden.
Sehr langsam drehte ich mich um - und sah sie.
Die Gastern-Hexe schwebte über der Schlucht. Sie hatte die
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