0478 - Der Horror-Kalender
einem ungemein starken Druck. Jeder Tag, der verging, konnte für die Besitzer der Kalender der letzte sein…
***
Obwohl er Myrthe schon lange kannte, überraschte ihn ihr Anblick immer wieder aufs Neue. Sie war ein Wesen zwischen Mensch und Vogel, eine echte Harpyie. Eine weibliche Gestalt mit den Flügeln eines Vogels und dem Gesicht einer Frau. Bei den alten Griechen war die Harpyie ein Windgeist, der gegen die Schiffe blies und hin und wieder die Seelen von Menschen fraß. Um ihn zu beruhigen, wurden ihm Lämmer und Schafe geopfert.
Etwas Ähnlichkeit besaß die Harpyie tatsächlich mit einem Windgeist. Der jungenhaft wirkende Körper schimmerte leicht durchsichtig, als bestünde er aus zahlreichen Fäden und kleinen Glasplatten. Das Wesen besaß im Gegensatz zum jugendlich wirkenden Körper ein widerliches, altes, häßliches Gesicht mit schwarzgrauen, böse blickenden Augen. Sie hatte etwas Hexenhaftes an sich. Federartige Haare umwuchsen den Kopf. Die Federn zeigten eine graue Farbe, als hätte ein Maler soeben mal seinen Pinsel darüber hinweggeführt.
Auf dem Rücken des Wesens wuchsen Flügel. Nicht wie bei einem Vogel aus Federn und dünnen Knochen bestehend, sondern eher ein Gespenst, zusammengesetzt aus dünnen Häutchenstücken, so daß man den Vergleich mit einem Insekt ziehen konnte. Die Flügel waren sehr groß. Wenn die Harpyie sie bewegte, erklang dieses Rauschen in das auch tiefe Brummtöne hineinglitten.
Javankala versuchte zu lächeln, bevor er noch einmal zu einer Erklärung ansetzte. »Es ging leider nicht anders. Die Gefahr war plötzlich vorhanden, und wir sollten gehen.«
Die Harpyie schaute ihn mit ihren dunklen Augen an. »Dagegen habe ich nichts. Sind die Menschen denn weg?«
»Ich glaube schon.«
»Sieh nach!«
Javankala gehorchte ohne Widerspruch. Er hatte der Harpyie viel zu verdanken. Sie war es gewesen, die aus ihm, einem mittellosen Maler, einen Menschen gemacht hatte, der die Geheimnisse fremder Welten kannte, sie optisch darstellte und sogar durch Myrthes Hilfe zum Leben erweckte.
Es lag schon einige Zeit zurück, als er sie entdeckt hatte. Er war auf eine griechische Insel gefahren, um sich dort als Porträtmaler zu verdingen. Touristen gab es genug, die sich hatten porträtieren lassen wollen. Der Sommer war lang und heiß gewesen. Javankala hatte genug Geld verdient, um auch den Winter auf der Insel verbringen zu können. An den kühleren Tagen hatte er seinen Platz am Strand verlassen und Wanderungen in das Innere unternommen.
Von den Höhlen im Fels war ihm schon berichtet worden. Nun entdeckte er sie selbst, lief durch tiefe Gänge und Tunnels, kam sich vor wie ein Maulwurf, entdeckte Nischen und auch halb verschüttete Stollen. In sie kroch er ebenfalls hinein, und es war an einem Sonntag gewesen, daran konnte er sich noch genau erinnern, als er die Harpyie entdeckte. Sie lag in einer Spalte, konnte sich nicht aus eigener Kraft befreien, denn jemand hatte mit einer goldenen Kette ihre beiden Flügel zusammengebunden. Zuerst hatte sich der Maler erschreckt, war geflohen, denn ein solches Wesen konnte es nicht geben.
Über seine Entdeckung hatte er mit niemanden gesprochen, aber die Neugierde trieb ihn voran. Er ging wieder hin, sprach mit der Harpyie und erfuhr, daß sie bereits seit sehr langer Zeit eine Gefangene war. Man mußte die Jahre in Tausenden zählen.
Beim dritten und vierten Besuch überzeugte die Harpyie den Maler, daß es besser für ihn und seine weitere Zukunft sein würde, wenn er sie befreite.
Sie nannte ihm auch die Gründe. Javankala dachte nicht mehr länger nach. Wenn alles eintraf, was sie ihm versprach, war er ein gemachter Mann.
So befreite er das ungewöhnliche Wesen und lebte fortan mit ihm zusammen.
Nur einmal zeigte er sich erschreckt, als er erfuhr, woher die Harpyie stammte.
Aus einem längst versunkenen Land, einem Kontinent, der den Namen Atlantis trug.
Darüber hatte er gehört, sich aber nie Gedanken gemacht. Das änderte sich in seinem Zusammensein mit der Harpyie. Sie berichtete oft und lange über ihre Heimat, und sie erzählte auch von sich, daß sie etwas Besonderes gewesen war.
Als Künstlerin war sie angesehen, denn von ihr stammten zahlreiche Zeichnungen, die so exakt ausgeführt waren, daß sie aussahen, als würden sie leben.
Für Javankala war es einfach das Schicksal, das die beiden zusammengeführt hatte. So konnte der eine von dem anderen profitieren, und der Maler mußte zugeben, daß er am meisten von
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